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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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›Lieb‹ stand oben, dann ein paar freie Zeilen, dann darunter ›Grausam‹ und noch ein paar Zeilen tiefer ›Liebgrausam‹.«
    Sie schüttelt den Kopf, und ich würde am liebsten schreien. Kann ich an einem Tag zwei Menschen der Lüge bezichtigen, oder ist das unangemessen? Mir kommt der Gedanke viel zu spät, dass ich ihr vielleicht sagen sollte, warum ich danach frage. Vielleicht ist sie dann eher bereit zu reden. »Ich will meine Nase nicht in Dinge stecken, die mich nichts angehen«, setze ich an.
    »Aber das tun Sie.«
    »Ich bin noch nie vorher hypnotisiert worden.« Erst, als ich es ausspreche, merke ich, wie jämmerlich das klingt. Sie zuckt leicht zusammen. Klasse. Jetzt habe ich dafür gesorgt, dass ich uns beiden peinlich bin. »Ich versuche nur herauszufinden, ob mein Gedächtnis noch richtig funktioniert, das ist alles.«
    »Und wir haben jetzt geklärt, dass dem nicht so ist«, sagt sie. Warum beunruhigt sie dieses Gespräch nicht stärker? Ich weiß, wie seltsam ich mich aufführe, zumindest glaube ich, dass ich es weiß, aber ihre sachlichen Antworten bringen mich dazu, es anzuzweifeln.
    Lieb – Grausam – Liebgrausam . Ich kann die Worte vor mir sehen, das Blatt Papier, auf dem sie stehen, und mehr noch, ich habe ein ebenso deutliches Bild von mir selbst, wie ich daraufblicke. Ich gehöre ebenso zu dieser Erinnerung wie die Worte, ich bin Teil der Szene. Genau wie diese Frau, wie ihr Notizbuch, ihre Zigarette …
    »Sie beschreiben liniertes Papier«, sagt sie.
    Ich nicke. Blassblaue waagerechte Linien und eine senkrechte rosa Linie links, zur Markierung des Rands.
    »Die Seiten in meinem Notizbuch sind nicht liniert.«
    Womit die Sache geklärt sein sollte. Sie schaut mich an, als wüsste sie, dass es nicht so ist.
    Wenn nicht Ginny diese Worte ausgesprochen und mich dann gebeten hat, sie zu wiederholen, wenn ich sie nicht im Notizbuch der Frau gesehen habe …
    Aber das habe ich. Ich weiß es. Dass ich mich bei Ginny getäuscht habe, heißt noch lange nicht, dass ich hiermit auch falschliege.
    »Dürfte ich es mal sehen?«, frage ich. »Bitte. Ich werde auch nichts lesen. Ich bin nur …« Nur was? Zu blöd und zu stur, um ihr zu glauben, ohne es mit eigenen Augen gesehen zu haben? Warum ist mir bloß völlig egal, wie unerhört ich mich aufführe? Ich kann damit nicht weitermachen, dazu habe ich keinerlei Recht. »Zeigen Sie mir einfach irgendeine Seite, und wenn die nicht liniert ist …«
    »Die Seiten sind nicht liniert.« Sie wirft einen Blick auf die Uhr und weist mit dem Kopf in Richtung Garten. »Ich gehe besser rein. Mein Termin war vor mehr als zwei Stunden, und für Ihren Termin bin ich fünfundsechzig Minuten zu spät, auch wenn der Großteil dieser Verspätung nicht meine Schuld ist …« Sie zuckt die Achseln. »Ob Sie es glauben oder nicht, ich würde mich lieber weiter mit Ihnen unterhalten. Und vielleicht zeige ich Ihnen eines Tages mein Notizbuch, vielleicht sogar schon bald – aber nicht jetzt.« Sie wirft mir einen bedeutungsvollen Blick zu, als sie diese eigentümlichen Sätze sagt. Baggert sie mich an? Sie hätte jedes Recht, wütend auf mich zu sein. Es muss einen Grund dafür geben, dass sie es nicht ist.
    Vielleicht sogar schon bald . Warum glaubt sie, dass wir uns wiedersehen werden? Das ergibt doch keinen Sinn.
    Bevor ich nachfragen kann, geht sie an mir vorbei in Ginnys Garten. Als ihr nachschaue, merke ich, dass ich selbst etwas derartig Ambitioniertes lieber nicht versuchen sollte, also bleibe ich reglos stehen. Vielleicht sollte ich warten, bis sie in einer Stunde wieder herauskommt. Doch das geht nicht. Ich muss die Kinder abholen. Ich muss sofort los, sonst komme ich zu spät. Trotzdem rühre ich mich nicht von der Stelle, bis ein Klopfgeräusch mir Beine macht. In wenigen Sekunden wird Ginny die Tür zu ihrer Holzpraxis öffnen. Ich kann nicht zulassen, dass sie mich sieht, nicht, nachdem ich sie derartig angeschrien habe. Wenn es eins gibt, dessen ich mir vollkommen sicher bin, dann das: Ginny Saxon und ich dürfen nie wieder aufeinandertreffen. Ich werde ihr einen entschuldigenden Brief schicken, einen Scheck über siebzig Pfund beilegen und mir dann einen anderen Hypnotherapeuten suchen – bei mir in der Nähe, in Rawndesley, einen, in dessen Gegenwart ich mich nie aufgeführt habe wie ein unausstehliches Gör. Luke wird lachen und mich einen Feigling nennen, mit Recht. Zu meiner Verteidigung könnte ich anführen, dass Feiglinge, die sich
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