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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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Bedeutsames sein. An was erinnern Sie sich, jetzt, in diesem Moment?«
    Sharon . Aber das kann ich nicht sagen. Falls ich sie nicht missverstanden habe, möchte Ginny etwas Neues von mir hören, keine Überbleibsel aus der letzten Übung.
    »Versuchen Sie nicht, etwas besonders Gutes auszuwählen«, sagt sie mit ihrer normalen Stimme. »Alles ist in Ordnung.«
    Schön. Gut zu wissen, wie wenig wichtig das alles hier ist.
    Nicht Sharon und ihr brennendes Haus. Es sei denn, du willst hier zusammenbrechen.
    Dann also Little Orchard. Die Geschichte von meinen verschwundenen Familienmitgliedern. Kein Todesfall, keine Tragödie, nur ein Rätsel, das nie gelöst wurde. Ich mache den Mund auf, aber dann fällt mir ein, dass Ginny betont hat, ich solle nicht extra nach irgendwas suchen. Little Orchard ist zu auffällig, zu aufsehenerregend. Sie wird mir nicht glauben, dass diese Erinnerung eben erst aufgetaucht ist, und das mit Recht. Sie ist ständig in meinem Kopf. Ich grüble ununterbrochen darüber nach, obwohl es schon Jahre her ist. Auf diese Weise habe ich etwas zu tun, wenn ich nachts wachliege und ich mir bereits über jeden anderen Aspekt meines Lebens Sorgen gemacht habe.
    »An was erinnern Sie sich?«, fragt Ginny. »Jetzt, in diesem Augenblick.«
    Oh Gott, das ist ein Albtraum. Was soll ich bloß sagen? Egal, einfach irgendwas.
    »Lieb. Grausam. Liebgrausam.«
    Was soll das denn bedeuten?
    »Könnten Sie das wiederholen?«, bittet Ginny.
    Das ist wirklich seltsam. Was ist da gerade passiert? Ginny hat irgendwas Merkwürdiges gesagt, aber warum fordert sie mich auf, es zu wiederholen? Ich war mit der Aufmerksamkeit abgeschweift, ich muss für eine Sekunde zu Little Orchard zurückgekehrt sein, oder zu Sharon …
    »Könnten Sie das noch einmal wiederholen?«
    »Lieb. Grausam. Liebgrausam«, sage ich, unsicher, ob ich es richtig hinbekommen habe. »Was soll das bedeuten?« Ist es ein Zauberspruch, der entwickelt wurde, um widerspenstige Erinnerungen ans Licht zu zerren?
    »Sagen Sie es mir«, entgegnet Ginny.
    »Wie sollte ich? Sie haben das doch gesagt.«
    »Nein, habe ich nicht. Sie haben es gesagt.«
    Eine längere Pause entsteht. Warum befinde ich mich noch in liegender Position, warum sind meine Augen geschlossen? Ich sollte mich aufsetzen und darauf bestehen, dass diese fremde Frau aufhört, Lügen über mich zu erzählen.
    »Nein, das waren Sie«, fahre ich sie verärgert an, da sie die Wahrheit doch ebenso gut kennen muss wie ich. »Und dann haben Sie mich gebeten, es zu wiederholen.«
    »Schon gut, Amber, ich zähle jetzt bis fünf, um Sie aus der Trance zu führen. Wenn ich bei fünf angelangt bin, öffnen Sie bitte die Augen. Eins. Zwei. Drei. Vier. Fünf.«
    Es ist seltsam, den Raum wieder zu sehen. Ich ziehe an dem Hebel unter der Armlehne des Stuhls und sitze wieder aufrecht. Ginny starrt mich an, ohne zu lächeln. Sie wirkt beunruhigt.
    »Ich habe das nicht gesagt«, beharre ich. »Das waren Sie.«
*
    Ich habe es so eilig, von hier wegzukommen, dass ich fast mit der Frau mit dem roten Lippenstift zusammenstoße. »Na, alles besser?«, fragt sie. Ihr Anblick schockt mich, warum, begreife ich zunächst gar nicht. Wie ist es möglich, dass ich sie so vollständig aus meinem Kopf gelöscht habe? Ich hätte mir denken können, dass sie möglicherweise vor der Tür warten würde. Mein Gehirn funktioniert nicht mit der üblichen Geschwindigkeit, und ich weiß nicht, ob es an der Müdigkeit liegt oder ob das die Nachwirkungen der Hypnose sind.
    Ihr Notizbuch. Das hast du vergessen. Du hast gesehen, wie sie irgendwas in ihr Notizbuch schrieb. Was hat sie sich notiert?
    Ich versuche angestrengt, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. So reagiere ich immer, wenn das Unerwartete mich aus dem Hinterhalt überfällt.
    Es funktioniert nicht.
    Warum sollte Ginny Saxon behaupten, ich hätte irgendwas gesagt, was ich gar nicht gesagt habe? Vor dem heutigen Tag kannte sie mich noch nicht einmal, sie hat nichts zu gewinnen, wenn sie mich anlügt. Wieso kommt mir dieser Gedanke erst jetzt?
    Ich sollte etwas sagen. Die Frau mit dem roten Lippenstift hat mich etwas gefragt. Na, alles besser? Seit unserer letzten Begegnung vor einer Stunde hat sich ihre Bitterkeit in gutmütige Resignation verwandelt. Sie glaubt nicht daran, dass Ginny in der Lage ist, eine von uns beiden zu heilen, aber in dieser Farce mitspielen, müssen wir trotzdem. Ich starre auf unsere Atemwolken in der Luft und stelle mir vor, dass sie eine
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