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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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nicht unprofessionell? Wird sie beim nächsten Klienten über mich herziehen?
    »Warum erzählen Sie mir nicht, warum Sie hier sind?« Ginny öffnet den Reißverschluss ihrer knöchelhohen Stiefel, kickt sie von den Füßen und macht es sich auf dem Ledersofa gemütlich. Soll ich mich dadurch weniger gehemmt fühlen? Es funktioniert nicht, im Gegenteil, es irritiert mich. Wir haben uns gerade erst kennengelernt. Sie ist doch angeblich eine professionelle Therapeutin. Was wird sie zum zweiten Termin tragen – Mieder und Schlüpfer?
    Aber das spielt keine Rolle, denn es wird keinen zweiten Termin geben.
    »Ich leide unter Schlaflosigkeit«, sage ich. »Richtig.«
    »Das zwingt mich zu der Frage: Wie leidet man unrichtig unter Schlaflosigkeit?«
    »Wenn man Einschlafprobleme hat, dann aber acht Stunden fest durchschläft. Oder sofort einschläft, aber zu früh aufwacht – um vier statt um sieben. Es gibt Leute, die jammern: ›Ich kann nicht schlafen‹, und sie meinen damit, dass sie nachts zwei- oder dreimal aufwachen, weil sie auf die Toilette müssen – sie haben kein Schlafproblem, sondern eins mit der Blase.«
    »Sie sprechen von Leuten, die ›leichten Schlaf‹ meinen, wenn sie ›Schlaflosigkeit‹ sagen?«, fasst Ginny zusammen. »Die von jedem kleinen Geräusch geweckt werden? Oder die nur mit Kopfhörer und Musik einschlafen können oder wenn das Radio läuft?«
    Ich nicke und versuche, mich nicht davon beeindrucken zu lassen, dass sie alle Leute zu kennen scheint, die ich hasse. »Das sind die ärgerlichsten der Pseudo-Schlaflosen. Wenn jemand sagt, ›Ich kann nur schlafen, wenn …‹, leidet er nicht unter Schlaflosigkeit.«
    »Hegen Sie einen Groll gegen Menschen, die gut schlafen?«, fragt Ginny.
    »Nicht, wenn sie es zugeben.« Vielleicht bin ich zu erschöpft, um nett zu sein, aber ich würde gern glauben können, dass mein Verstand trotzdem noch funktioniert. »Ich habe nur etwas gegen Leute, die kein Problem haben, aber so tun, als hätten sie eins.«
    »Leute, die von sich sagen: ›Ich schlafe wie ein Murmeltier, mich kann nichts aufwecken‹, sind also in Ordnung?«
    Versucht sie, mir eine Fangfrage zu stellen? Ich bin versucht, ihr eine Lüge aufzutischen, aber warum sollte ich? Die Frau muss mich nicht mögen. Sie muss versuchen, mir zu helfen, ob sie mich mag oder nicht, dazu ist sie verpflichtet. Dafür bezahle ich sie. »Nein, die sind unerträglich selbstgefällig«, erkläre ich.
    »Aber wenn es wahr ist, wenn sie tatsächlich schlafen wie die Murmeltiere, warum sollten sie das dann nicht sagen?«
    Wenn sie noch mal von Murmeltieren spricht, gehe ich. »Es gibt schließlich verschiedene Möglichkeiten, jemandem mitzuteilen, dass man immer gut schläft.« Ich bin den Tränen gefährlich nahe. »Zum Beispiel, indem man darauf hinweist, dass man zwar gut schlafen kann, aber dafür jede Menge anderer Probleme hat. Schließlich hat jeder irgendwelche Probleme, oder?«
    »Natürlich«, bestätigt Ginny, die aussieht, als hätte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie über irgendwas Sorgen gemacht. Ich starre an ihr vorbei. Hinter dem Ledersofa, auf dem sie sitzt, sind zwei große Fenster. Ginnys Garten ist ein langer, schmaler Grünstreifen. Am hinteren Ende kann ich einen braunen Fleck erkennen, einen Holzzaun, und dahinter Felder, die grüner und vielversprechender aussehen als die auf der anderen Seite der Straße. Wenn ich hier wohnte, würde ich mir Sorgen machen, dass irgendein Bauunternehmer das Land aufkaufen und so viele Häuser daraufstellen würde wie irgend möglich.
    »Erzählen Sie mir von Ihren Schlafproblemen«, sagt Ginny. »Nach diesem Auftakt erwarte ich eine wahre Schreckensgeschichte. Unter der Armlehne ist ein Holzhebel, falls Sie den Stuhl zurückstellen möchten.«
    Ich will mich nicht zurücklehnen, aber ich tue es trotzdem und stelle meine Füße auf den Schemel, sodass ich mich in beinahe liegender Position befinde. Es ist leichter, wenn ich ihr Gesicht nicht sehen kann, wenn ich mir einreden kann, dass ich mit einer Stimme vom Band spreche.
    »Also. Niemand auf der Welt leidet schlimmer unter Schlaflosigkeit als Sie?«
    Macht sie sich über mich lustig? Ich kann nicht umhin zu bemerken, dass ich mich noch keineswegs in Trance befinde. Wann will sie denn endlich anfangen? Wir haben schließlich kaum eine Stunde Zeit.
    »Nein«, entgegne ich steif. »Ich bin besser dran als viele Menschen, die überhaupt nicht schlafen können. Ich schlafe nachts immer mal wieder
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