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Der kalte Schlaf

Der kalte Schlaf

Titel: Der kalte Schlaf
Autoren: Sophie Hannah
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Instruktionen aus der Jackentasche: Ginnys Adresse. Ich überprüfe sie und stecke sie wieder ein – eine Verzögerungstaktik, die mir nichts verrät, was ich nicht bereits wüsste. Ich bin hier richtig.
    Oder falsch.
    Na los.
    Als ich auf das Haus zugehe, sehe ich, dass der Wagen, der in der Auffahrt steht, nicht leer ist. Eine Frau sitzt darin, eine Frau in einem schwarzen Mantel mit Pelzkragen, einem roten Schal und leuchtend rotem Lippenstift. Auf ihrem Schoß liegt ein offenes Notizbuch, in der Hand hält sie einen Stift. Sie raucht eine Zigarette und hat trotz der Temperatur das Fenster heruntergelassen. Sie trägt keine Handschuhe, und ihre Hände sind gerötet vor Kälte. Rauchen und Schreiben sind ihr offenbar wichtiger als ihr Wohlbefinden, denke ich, als ich die Wollhandschuhe sehe, die neben einer Packung Marlboro Light auf dem Beifahrersitz liegen. Sie blickt auf, lächelt und sagt Hallo.
    Um Ginny Saxon kann es sich nicht handeln. Denn auf ihrer Website kann man nachlesen, dass Raucherentwöhnung eins der Dinge ist, bei denen Hypnose helfen kann. Es wäre also eher seltsam, wenn sie sich mit einer Zigarette in der Hand vor ihrem Haus ins Auto setzen würde. Dann bemerke ich etwas, das von der Straße aus nicht zu sehen war, ein kleines freistehendes Holzhäuschen hinten im Garten. Ein Schild verkündet: Great Holling Hypnotherapie-Praxis Ginny Saxon. Psychologin. Pädagogin. Mitglied der Gesellschaft für klinische Hypnose.
    »Dort findet es statt«, sagt die Raucherin mit mehr als einer Spur von Bitterkeit in der Stimme. »In ihrem Geräteschuppen. Sehr vertrauenerweckend, oder?«
    »Der Schuppen ist ansprechender als das Haus«, bemerke ich. Es gelingt mir problemlos, in den Unartige-Mädchen-ganz-hinten-im-Schulbus-Modus umzuschalten, und ich bete, dass Ginny Saxon nicht unvermittelt hinter mir auftaucht und mich dabei erwischt, wie ich ihr Haus heruntermache. Warum liegt mir daran, mich bei dieser fremden Frau einzuschmeicheln? »Zumindest hat der Schuppen keine Kunststofffenster«, füge ich hinzu. Ich weiß nur zu gut, wie absurd mein Verhalten ist, aber ich bin machtlos – ich kann nichts dagegen tun.
    Die Frau grinst und wendet sich dann ab, als hätte sie sich das mit dem Gespräch anders überlegt. Sie blickt in ihr Notizbuch. Ich weiß, wie sie sich fühlt. Es wäre besser gewesen, wir hätten so getan, als wäre die andere gar nicht da. Wir können so sarkastisch sein, wie wir wollen, wir sind beide hier, weil wir ein Problem haben, das wir nicht selber lösen können, und wir wissen es – von uns selbst und von der anderen.
    »Sie ist eine Stunde im Verzug. Ich hatte einen Termin um zwei.«
    Ich versuche, den Eindruck zu erwecken, als mache mir das nichts aus, aber ich weiß nicht, ob es mir gelingt. Das würde bedeuten … ich werde erst um vier drankommen, und um zehn nach vier muss ich los, wenn ich rechtzeitig zu Hause sein will, um Dinah und Nonie vom Schulbus abzuholen.
    »Keine Sorge, Sie können meinen Termin haben«, sagt meine neue Freundin und wirft ihre Kippe aus dem Fenster. Wenn Dinah hier wäre, würde sie sagen: »Heben Sie Ihren Abfall auf, aber sofort, und werfen Sie ihn in den Mülleimer.« Die Idee, dass sie erst acht ist und nicht in der Position, einer fremden Frau, die mehr als fünfmal so alt ist wie sie, Befehle zu erteilen, würde ihr gar nicht kommen. Ich nehme mir fest vor, die Kippe nachher aufzuheben und in den nächsten Mülleimer zu werfen – wenn die Frau es nicht mehr mitbekommt und als Kritik auffassen könnte.
    »Das würde Ihnen nichts ausmachen?«, frage ich.
    »Dann hätte ich es nicht angeboten«, meint sie. Ihre Stimme klingt merklich munterer. Weil sie vom Haken ist? »Entweder ich komme um vier wieder oder …«, sie zuckt die Achseln, »oder auch nicht.«
    Sie fährt das Fenster herunter und setzt rückwärts aus der Auffahrt, wobei sie mir auf eine Art zuwinkt, die mir den Eindruck vermittelt, ich sei hereingelegt worden – eine Mischung aus Lässigkeit und Überlegenheit, ein Winken, das auszudrücken scheint: »Jetzt bist du auf dich gestellt, du Dummerchen.«
    »Kommen Sie doch herein, es ist so kalt«, sagt eine Stimme hinter mir. Ich drehe mich um und sehe eine füllige Frau mit einem runden, hübschen Gesicht und blonden Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind, aber so nachlässig, dass der Großteil sich aus dem Haargummi befreit hat. Sie trägt einen olivgrünen Cordrock, schwarze, knöchelhohe Stiefel, schwarze Strumpfhosen
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