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Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)

Titel: Der Junge, der Ripley folgte (German Edition)
Autoren: Patricia Highsmith
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sich etwas zusammen, ein Sturm zog auf, und in der Luft lag eine Spannung, die Tom um acht hatte aufwachen lassen, noch bevor Madame Annette mit dem Kaffee kam. Jetzt war es bedrohlich dunkel draußen und völlig windstill. In der Ferne grollte Donner.
    »Eine Karte von den Cleggs!« Héloïse hatte sie unter Briefen entdeckt. »Aus Norwegen, von ihrer Kreuzfahrt. Du erinnerst dich, Tomme ? Sieh mal, ist das nicht schön?«
    Tom sah von seiner International Herald Tribune auf und nahm die Postkarte, die Héloïse ihm reichte: ein weißes Schiff zwischen den tiefgrünen Bergen eines Fjords, im Vordergrund ein paar Häuschen, die sich in eine schmale Einbuchtung der Steilküste duckten. »Sieht tief aus«, sagte Tom. Plötzlich mußte er ans Ertrinken denken, ohne zu wissen, warum. Tiefes Wasser machte ihm angst; Schwimmen war ihm zuwider, er versuchte es nicht einmal und dachte oft, er werde im Wasser enden.
    »Lies vor«, sagte Héloïse.
    Der Text der Karte war englisch. Howard und Rosemary Clegg, ihre englischen Nachbarn, die rund fünf Kilometer entfernt wohnten, hatten beide unterschrieben. »›Herrlich erholsame Kreuzfahrt. Wir hören Sibelius-Kassetten, passend zur Stimmung. Alles Liebe von Rosemary. Schade, daß Ihr beiden nicht hier mit uns die Mitternachtssonne erleben könnt…‹« Tom hielt inne. Krachender Donner grummelte wie ein bissiger Hund. »Das gibt heute noch was«, sagte Tom. »Hoffentlich bleiben die Dahlien stehen.« Allerdings hatte er sie an Stöcke gebunden.
    Héloïse nahm die Karte wieder an sich. »Du bist so unruhig, Tomme. Das ist doch nicht unser erstes Gewitter. Ich bin froh, daß es gleich losgeht, nicht erst heute abend um sechs. Ich muß ja noch zu Papa.«
    Tom hatte es nicht vergessen. Chantilly. Freitags aß sie mit ihren Eltern zu Abend, ein jour fixe, den sie gewöhnlich einhielt. Manchmal kam er mit, manchmal nicht. Lieber nicht, denn ihre Eltern waren langweilige Spießer, ganz abgesehen davon, daß sie ihn nie besonders gemocht hatten. Er fand es bezeichnend, daß Héloïse immer sagte, sie müsse »zu Papa«, nicht zu »den Eltern«: Papa hielt die Hand auf dem Geldbeutel; Mama war von Natur wesentlich großzügiger, doch Tom bezweifelte, daß sie in einer echten Krise – bei einem echten Fehltritt von ihm, wie damals beinah in der Derwatt-Affäre, als er wegen Bernard und des Amerikaners Murchison in der Klemme saß – nennenswerten Einfluß hätte, falls Papa Héloïse das Geld streichen wollte. Nur mit diesem Zuschuß ließ sich Belle Ombre standesgemäß unterhalten. Tom zündete sich eine Zigarette an und wappnete sich wohlig schaudernd gegen den nächsten Blitzschlag. Er dachte an Jacques Plisson, Héloïses Vater, einen korpulenten Wichtigtuer, der die Fäden des Schicksals (oder die Schnüre des Geldbeutels) in den Händen hielt wie ein Wagenlenker die Zügel. Schade, daß Geld solche Macht hatte, aber so war es nun einmal.
    »Monsieur Tomme, encore du café?« Auf einmal stand Madame Annette an seiner Seite. Die Silberkanne zitterte kaum merklich.
    »Nein, danke, Madame Annette, aber lassen Sie die Kanne hier, für später vielleicht.«
    »Dann seh ich nach den Fenstern.« Madame Annette stellte die Kanne auf einen Untersetzer mitten auf dem Tisch. »So dunkel! Das wird ein Unwetter geben.« Für einen Augenblick traf ihn ein Blick ihrer blauen Augen unter normannischen Lidern, dann eilte sie zur Treppe. Tom nahm an, daß sie alle Fenster schon einmal überprüft, womöglich gar einige Fensterläden geschlossen hatte, doch es gefiel ihr, noch einmal nachzuschauen. Tom ebenfalls. Rastlos stand er auf, trat ans Fenster, wo es ein wenig heller war, und überflog die »Leute«-Kolumne auf der letzten Seite der Tribune: Frank Sinatra gab wieder einmal seinen allerletzten Auftritt, diesmal in einem Film, der bald anlaufen würde. Der sechzehnjährige Frank Pierson, Lieblingssohn von John Pierson, dem verstorbenen Lebensmittelmagnaten, war aus dem Haus der Familie in Maine verschwunden, und nach fast drei Wochen ohne ein Wort von ihm war die Familie in großer Sorge. Der Tod des Vaters im Juli hatte den Jungen zutiefst erschüttert.
    Tom erinnerte sich an einen Pressebericht über John Piersons Tod. Selbst die Londoner Sunday Times hatte ihm eine kurze Spalte gewidmet. John Pierson war an den Rollstuhl gefesselt gewesen, so wie Gouverneur George Wallace aus Alabama, und zwar aus dem gleichen Grund, wegeneines mißglückten Attentats. Er war ungeheuer reich gewesen,
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