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Der Joker

Titel: Der Joker
Autoren: Markus Zusak Alexandra Ernst
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Koteletten und ist so hässlich wie eh und je.
    »Die sechs Monate sind vorbei«, sagt er. Diesmal hört sich seine Stimme freundlich an.

    »Aber …«
    »Stell keine Fragen«, unterbricht er mich. »Fahr einfach weiter. Fahr zur Edgar Street 45.«
    Ich tue es.
    »Weißt du noch?«
    Ich weiß es.
    »Jetzt in die Harrison Avenue, Nummer 13«, und nacheinander befiehlt mich der Bankräuber zu allen Adressen. Zu Milla und Sophie, zu dem Priester und Angie Carusso und zu den Rose-Brüdern.
    »Weißt du noch?«, fragt er mich jedes Mal.
    In meinem Taxi besuche ich erneut die Orte, durchlebe noch einmal die Aufgaben, die ich vollbracht habe.
    »Ja«, sage ich zu ihm. »Ich weiß.«
    »Gut. Jetzt in die Havanna Street.«
    »In die Babel Street und dann zu deiner Mutter.«
    »In die Glass Street.«
    »Die letzten drei Adressen kennst du ja.«
    Wir fahren durch die Straßen der Stadt, während die Sonne höher in den Himmel klettert. Wir fahren zu Ritchie, zu dem Spielplatz mit dem ungemähten Gras und zu Audreys Haus. Jedes Ziel bringt eine Erinnerung mit sich, die mich umwälzt. Manchmal wäre ich am liebsten geblieben.
    Für immer.
    Bei Ritchie am Fluss.
    Bei Marv an der Schaukel.
    Bei Audrey, auf ewig tanzend im stillen Feuer des frühen Morgens.
     
     
    »Und jetzt?«, frage ich, als wir zu meinem Haus zurückkehren.

    »Steig aus«, sagt er.
    Ich kann mich nicht mehr zurückhalten.
    Ich sage: »Du warst es, nicht wahr? Du hast die Bank ausgeraubt und genau gewusst, dass...«
    »Würdest du bitte einfach die Klappe halten, Ed?«
    Wir stehen neben dem Taxi in der Morgensonne.
    Bedächtig zieht er etwas aus seiner Jackentasche. Es ist ein kleiner, flacher Spiegel.
     
     
    »Weißt du noch, was ich zu dir gesagt habe - nach meiner Verhandlung?«
    »Ja«, sage ich, und aus einem unerfindlichen Grund spüre ich eine Wärme in meinen Augen.
    »Was war es?«
    »Du sagtest, dass ich jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schaue, einen toten Mann vor mir sehe.«
    »Richtig.«
    Der glücklose Dieb stellt sich vor mich hin. Ein leises Lächeln landet auf seinen Lippen, und er hält den Spiegel hoch, direkt vor mein Gesicht. Ich schaue mich an.
    Er sagt: »Und, siehst du jetzt einen toten Mann?«
    Wie eine Flut brechen all die Orte, an denen ich gewesen bin, und all die Menschen, die ich kennen gelernt habe, über mich herein. Ich halte das Kind auf der Veranda in meinen Armen und besuche als Jimmy eine wunderbare alte Frau. Ich sehe ein Mädchen mit den besten blutigen Füßen ein Rennen bestreiten.
    Ich lache über das Entzücken auf dem Antlitz eines gläubigen Mannes. Ich schaue auf Angie Carussos Eiskremlippen und spüre die Verbundenheit der Rose-Brüder. Ich sehe die Dunkelheit einer Familie von Kraft und Herrlichkeit
erleuchtet, lasse mich von meiner Mutter mit Wahrheit, Liebe und der Enttäuschung ihres Lebens durchprügeln, sitze im Kino eines einsamen Mannes.
    Ich schaue in den Spiegel und sehe mich mit meinem Freund im Fluss stehen. Ich betrachte Marvin Harris, der seine kleine Tochter auf einer Schaukel anschubst, hoch in den Himmel, und ich tanze drei Minuten lang mit Audrey und der Liebe...
     
     
    »Nun?«, fragt er noch einmal. »Siehst du immer noch einen toten Mann?«
    Diesmal antworte ich.
    Ich sage: »Nein.«
    »Dann war es die Sache wert.«
    Er ist für diese Menschen ins Gefängnis gegangen.
    Er ist für mich ins Gefängnis gegangen. Jetzt geht er weg, mit ein paar letzten Worten auf den Lippen.
    »Mach’s gut, Ed - vielleicht gehst du jetzt besser rein.«
    Und weg ist er.
    Genauso wie Daryl und Keith werde ich ihn nie mehr wiedersehen.

J
    Die Mappe
    So ruhig, wie ich nur kann, gehe ich ins Haus. Meine Tür steht offen.
    Auf dem Sofa sitzt ein junger Mann, der den Türsteher sehr sanft und sehr zufrieden streichelt.

    »Wer sind...?«
    »Hallo, Ed«, sagt er. »Ich freue mich, dich endlich kennen zu lernen.«
    »Sind Sie...?«
    Er nickt.
    »Sie haben mir die Karten...?«
    Wieder nickt er.
     
     
    Er steht auf und sagt: »Vor einem Jahr bin ich in diese Stadt gekommen, Ed.« Er hat ziemlich kurze braune Haare, ist etwas kleiner als der Durchschnitt und trägt ein kurzärmeliges Hemd, Jeans und blaue Sportschuhe. Mit jeder Minute, die vergeht, sieht er mehr wie ein Junge aus als wie ein Mann, obwohl seine Stimme nicht die eines Kindes ist.
    »Ja, es war etwa vor einem Jahr, und ich habe gesehen, wie dein Vater begraben wurde. Ich habe dich und deine Kartenspiele gesehen, deinen Hund und deine Mutter. Ich bin
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