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Der Infekt

Der Infekt

Titel: Der Infekt
Autoren: Linda Budinger
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denken. Cotton strampelte mit der höchsten Einstellung auf dem Trimmrad. Er war hier nur Zivilist und abgeschnitten von den dienstlichen Möglichkeiten. Das war fast schlimmer als die gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Cottons Denkapparat funktionierte einwandfrei, auch wenn die Kondition deutlich zu wünschen übrig ließ.
    Eine Frage ging ihm immer wieder durch den Kopf: Wenn Shultz angeblich eine Allergie entwickelt hatte, wieso waren die Maden dann auch bei Mrs Kelly und ihm entfernt worden, obwohl weder die alte Dame noch er irgendwelche Beschwerden gemeldet hatten?
    Und noch etwas störte ihn, und das machte Shultz’ Tod beinahe zu einer persönlichen Angelegenheit: Es war der eigentlich für Cotton bestimmte Bio-Bag gewesen, den sich Shultz in seiner Verzweiflung gestern vom Bein gerissen hatte …
*
    Cotton hatte gerade geduscht und rubbelte sich die Haare trocken, als ein silbriges Glänzen auf der Straße seine Aufmerksamkeit weckte.
    Nur mit einer Jeans bekleidet trat er ans Zimmerfenster.
    Die zwei Schlägertypen, die er für Bodyguards hielt, halfen einem älteren Mann aus dem grauen Chrysler. Der Mann stützte sich beim Weg in die Klinik sowohl auf die Arme seiner Begleiter wie auch auf einen Stock mit silbernem Griff.
    Irgendetwas an dem Neuankömmling kam Cotton bekannt vor. Kurz entschlossen schleuderte er das Handtuch aufs Bett, streifte sich ein Hemd über und eilte barfuß ins Foyer. Dort standen mehrere Clubsessel, die wohl den Eindruck einer großzügigen Hotellobby erwecken sollten. Cotton ließ sich in einem der Sessel nieder, in der Hand die aktuelle New York Times .
    Dr. Sheffer kam in die Lobby, würdigte Cotton jedoch keines Blickes und hatte nur Augen für den Neuankömmling. »Mr Ernesto! Ich bin froh, dass es so kurzfristig geklappt hat. Willkommen in der Belfort-Privatklinik. Kommen Sie, ich zeige Ihnen gleich Ihre Suite.«
    Wetten, dass diese Suite einen eigenen Fernseher hatte? Während Cotton die Zeitung umblätterte, rutschte ein loses Blatt heraus. Er bückte sich, um es aufzufangen. Doch seine Wunde verlangsamte die Reaktion, und Cotton fiel auch der Rest der Zeitung aus der Hand. Als er sich wieder aufrichtete, blickte er direkt in die kalten grauen Augen des Neuankömmlings, der ihn abschätzend musterte.
    Cotton war diesem Mann schon einmal begegnet – und plötzlich wusste er, wen er vor sich hatte. Der Mann hieß nicht Ernesto, sondern Castelli, und er war in Unterweltkreisen als »Blutiger Buchmacher« bekannt.
*
    Am Nachmittag hockte Cotton vor Dr. Carters Sprechzimmer. Mrs Kelly näherte sich, im Gespräch mit einer asiatisch aussehenden Frau um die fünfzig vertieft, die an Krücken ging. Mrs Kelly schien es keinesfalls recht zu sein, Cotton zu treffen, doch die leidgeprüfte Miene ihrer Begleiterin hellte sich auf. »Wie schön, hier mal ein junges Gesicht zu sehen!«, sagte sie verschmitzt.
    Sie wollte sich setzen, aber ihre Krücke verfing sich in der Armlehne des Stuhls. Cotton eilte ihr zu Hilfe, und bald entwickelte sich ein Gespräch zwischen ihm und Mrs Chin. Sie war Diabetikerin und litt unter einem offenen Fuß – und der Hitze. Als sie über Durst klagte, holte Cotton ihr einen Becher Wasser vom öffentlichen Spender am Ende des Korridors.
    Nachdem Mrs Chin ins Sprechzimmer gerufen wurde, schwiegen Cotton und Mrs Kelly sich eine Zeit lang an.
    »Auf Mr Shultz müssen wir ja nun nicht mehr warten«, sagte Cotton schließlich.
    Mrs Kelly nickte. »Seine Verlobte war gerade da und hat seine Sachen abgeholt«, wusste sie zu berichten. »Er ist wohl verlegt worden.«
    »Ja, ins Leichenschauhaus.«
    Mrs Kelly riss die Augen auf. »Ich muss doch sehr bitten! Das ist kein Thema für schlechte Scherze!«
    »Ich mache keine Scherze.« Cotton berichtete, was er am Morgen erfahren hatte, und endete mit den Worten: »Und ehe diese Sache nicht geklärt ist, sollte man keine neuen Behandlungen beginnen, finden Sie nicht auch?«
    Unter ihrer Sonnenbräune erbleichte Mrs Kelly sichtlich. »Sind Sie denn Mediziner?«
    »Nein. Ich arbeite als Gutachter für eine Versicherung.« Zum ersten Mal fand Cotton die falsche Identität nützlich. »Und weil Mrs Chin genauso unter Diabetes leidet wie der arme Mr Shultz, wäre ich anstelle der Klinik vorsichtig.«
    »Die Klinik hat einen Ruf zu verlieren. Bestimmt wird alles aufgeklärt.«
    So viel Vertrauen setzte Cotton nicht in die menschliche Natur. »Ich werde jedenfalls zusehen, dass hier nichts unter den Teppich gekehrt
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