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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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Aspekte ihres jeweiligen Unglücks für entweder überflüssig oder unvermeidlich. Man kann das Kulturdifferenz nennen; dann denkt man der logischen Form nach so, wie Ronald Reagan dachte, als er auf den Hinweis, eine große Anzahl seiner Landsleute gehe abends hungrig zu Bett, die Erwiderung wußte, freilich, die machten eben eine Diät. Die Kultur der Todkranken, würde so ein Radikalkulturalist sagen, ist das Sterben.
    Die Teepflückerin hat aber nicht deshalb keinen Internetzugang, weil Hindus so etwas nicht wollen, sondern weil sie, anders als ihr Cousin in Mumbai, auf der Plantage statt im Callcenter arbeitet.
II.
Naturrecht: Freiheit von Natur
    Je nach Bildung, Neigung und Talent zu ausgefuchsten Folgerungen werden Teepflückerin, Fahrradkurier und Universitätsprofessorin, wenn sie darüber reden, daß es den Menschen besser gehen könnte, einen Unterschied machen zwischen der Ungleichheit und dem Unrecht: Daß auch beim besten Willen, unterm besten König, der warmherzigsten Stammesmutter oder in der entwickeltsten Demokratie nicht alle alles haben können, sehen selbst die wildesten Gracchen ein. Aber die verschiedenen Ungleichheiten, die man beobachten kann, sind selbst wieder untereinander durchaus ungleichartig. Daß die Güter und Möglichkeiten des Lebensgenusses, wenn schon nicht gleichmäßig, so doch wenigstens jemals nach einem Schlüssel verteilt worden wären, der die gesellschaftlichen Ressourcen (Wohnungsnot gibt es nur, wo nicht gebaut wird) ebenso erschöpfend nutzt wie die natürlichen, und damit das Gerechtigkeitsempfinden zufriedenstellt, hat man noch nirgends gehört.
    Es waren niemals die Klügsten, die auf das meiste Lernmaterial Zugriff hatten; nie die Tüchtigsten, die sich an den besten Mahlzeiten freuen durften; nie die Schönsten, deren Liebe die wenigsten Verbote ertragen mußte; nie die Edelsten, denen man die wenigsten Steine in den Weg legte. Das ist eine Evidenzwahrheit, deren Augenschein desto deutlicher wird, je tiefer man mit analytischem Werkzeug in die Geschichte eindringt. Ihr Fluch hat bewirkt und sorgt weiter dafür, daß zu allen Zeiten nicht nur die Zurückgesetzten, Übervorteilten und Benachteiligten, sondern auch einige gar nicht so übel versorgte Leute mit Muße zum Nachdenken und Geschick beim Kritisieren auf die vorherrschenden Vorstellungen betreffend das rechte Maß der Belohnung für Klugheit, Tüchtigkeit, Schönheit und Adel schlecht zu sprechen waren und sind.
     
    Zum Glück für alle, die ihren Mitmenschen Gutes wollen, ist die Idee von der Eigengesetzlichkeit der Naturvorgänge erst sehr spät in die Köpfe gelangt; sonst hätte man wahrscheinlich früh von Kanzeln und anderen Lehrstühlen herab gelehrt, daß Leiden, Unglück und Unbehagen unhintergehbare biologische Notwendigkeiten seien, die den Organismus in auf tieferliegende Zufälle irreduzibler Weise dazu anhalten sollten, sich um sein Auskommen gefälligst selbst zu kümmern. Der positivistisch lackierte Raubtiernihilismus postaufgeklärter Bioliberaler, die das Marktgeschehen um Angebot und Nachfrage mit dem evolutionären Selektionsdruck unter Pflanzen und Tieren verwechseln, ist die bösartigste Variante der Prädestinationslehre, die je erfunden wurde.
     
    Menschen früherer Zeitalter dachten nicht, daß die Natur keinen Sinn habe und daß man dem, was keinen Sinn hat, nur gehorchen könne, weil das, was sich nicht befragen läßt, auch keinen Widerspruch erlaubt. Den allerersten Leuten, die über dergleichen nachgrübelten, war die Natur vielmehr beseelt, der Unterschied zwischen ihrem Gemütshaushalt und dem von ihnen bewohnten Biotop noch ungeläufig. Aus dem, was ihnen diese ungenaue Betrachtungsweise als Inventar der Welt entdeckte, folgerten sie, daß ihr ständiges Mangelempfinden nur von der tatsächlichen Möglichkeit eines besseren Lebens rühren konnte: Wäre alles richtig so, wie es ist, würde es mir dabei ja nicht schlecht gehen; es muß also eine Instanz geben, die mich, indem sie mich leiden macht, auf etwas hinweisen will und bei der ich, wenn ich mich gelehrig, anstellig, demütig zeige, um eine Verbesserung meiner Lage einkommen kann – daher Gott, Göttin, Götter, Gebete.
    Daher auch – als abstraktes Prinzip, in dem das Göttliche als die erste Adresse für Beschwerden wider das Zivilisationsganze gedacht werden kann – der Universalismus, selbst der rationalistische.
    Vom Plantagensklaven, der seinen Klagegesang anstimmt, über den protestantischen Geistlichen,
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