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Der Implex

Der Implex

Titel: Der Implex
Autoren: Dietmar Barbara; Dath Kirchner
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der nachts nicht schlafen kann, weil der Plantagensklave leidet, bis zum Jakobiner, der durch Errichtung eines Vernunftstaats die Verkehrsformen abschaffen will, unter denen der Plantagensklave überhaupt einer ist, eint die Unzufriedenen aller Epochen vor der Erfindung des Sozialdarwinismus die Überzeugung, daß es im Menschenwesen etwas geben muß, das von Ungleichheit, Unfreiheit und Unrecht beleidigt, vergewaltigt, geschändet wird. Es könnte, sagt diese Denktradition, den Getretenen, Ausgebeuteten, Beraubten, Ausgeschlossenen nicht nur besser gehen, es müßte überhaupt und insgesamt alles anders sein; Leiden ist Indikator eines verrutschten, verkehrten, vom Richtigen abgekommenen Zustands; wir sind gleichsam runde Klötze, die irgendwer in eckige Öffnungen gehauen hat oder umgekehrt. Wären die Klötze in der richtigen, ihnen gemäßen Öffnung, könnten alle aufatmen. Ob dieser Argumentationsgang im einzelnen theologisch, anthropologisch oder soziologisch entfaltet wird, immer ist der Grund dafür, daß etwas geändert (nämlich: wiederhergestellt) werden soll, einfach der, daß »der Mensch ein Mensch ist« (Brecht), nämlich je nachdem Gottesgeschöpf, denkender Primat oder zoon politikon , aber eben nicht Sklave, Hure, Werkstück oder zur Vernichtung – wenn schon sonst zu nichts – bestimmter Untermensch: kein Ding also.
     
    In seltenen Augenblicken des Geschichtsverlaufs, dann nämlich, wenn Machtgeschichte und Vernunftgeschichte einander plötzlich auf Augenhöhe begegnen, wird immer wieder versucht, diese Art Begründung des Rechts auf Lebenssicherheit und Lebensglück mit Gesetzeskraft zu segnen: 1215 muß König John in der Magna Carta seine nichtadeligen Engländer dem allzu freien Zugriff der von Geblüt herrschenden Klasse entziehen, 1542 läßt sich ein spanischer Monarch von einem Mönch aus verwickelten Gründen dazu bewegen, dem Indioquälen in der Neuen Welt Grenzen zu setzen, 1679 wird, wieder in England, mit dem Habeas Corpus -Gesetz jeder, der – »weil der Mensch ein Mensch ist« – auch einen Menschenkörper hat, vor Polizeiwillkür mit strengen Ausführungsbestimmungen geschützt, das achtzehnte Jahrhundert schließlich setzt von Amerika über Frankreich bis Preußen Menschenrechtserklärungen auf, die über ihr spätes Pastiche, das staatsrechtsordnende Dokument der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948, bis zu der Zeit, in der wir dieses Buch schreiben, die Grundlage neonaturrechtlicher Politik in der einzelstaatlichen Binnengesetzgebung wie bei der zwischenstaatlichen Kriegsführung der nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen, nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt zur »Neuen Weltordnung« transformierten Verhältnisse bildet.
    Im achtzehnten Jahrhundert, in Frankreich und Amerika nämlich, wurde die Naturrechtslehre, geboren in der Scholastik, geadelt von der apollinischen Eleganz des Thomismus, kühn angeeignet vom Bürgertum in der Aufklärung, von einer hübschen Idee, die bislang nur okkasionell zum Herrscherwillen paßte, zur politischen Gewalt, zum Grundriß einer neuen Sorte Subjektivität, Legitimität und »Gouvernementalität« (Foucault).
    Die Bürger konnten sich das leisten.
     
    Reichtum schafft immer Spielraum für Schönheit, Größe und Güte. Wenn die glücklichere Menschenart, die dabei zu sich selbst kommt, ihren Blick jedoch zurücklenkt auf die Bedingungen, unter denen jener Reichtum entstanden ist, erschrickt sie. Schon die athenische Demokratie, die ionische Naturphilosophie, die Kunst der antiken Klassik, also seltene Schönheit, Größe und Güte, verdanken sich der Sklavenhalterei. An Schönheit, Größe und Güte dieses Griechentums sind Maßstäbe gewonnen worden, die den besonderen Weg, auf dem sie damals errungen wurden, fragwürdig machen und dazu nötigen, die Reichtumsquellen, denen sie entsprangen, zu verurteilen – dazu nötigen, aber eben auch: dazu ausrüsten. Das europäische Bürgertum des sechzehnten, siebzehnten, achtzehnten Jahrhunderts christlicher Zeitrechnung schärfte den eigenen Blick, um die Legitimität des Feindes ins Visier zu nehmen. Auf die geschichtlichen und soziologischen Voraussetzungen des Bürgertums selbst zurückzublicken, gehörte nicht ins Programm – die Naturrechtslehre ermächtigte zum Blick in die hypothetische Vorgeschichte aller Gesellschaften, nicht in die Geschichte derjenigen Gesellschaft, die gerade wurde. Was man in der gedachten Vorgeschichte fand, taufte man
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