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Der Idiot

Titel: Der Idiot
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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Westeuropa sehr lange zu bleiben und nennt sich selbst mit völliger Aufrichtigkeit einen in Rußland ganz überflüssigen Menschen; ziemlich oft, mindestens alle paar Monate einmal, besucht er seinen kranken Freund bei Schneider; aber Schneider macht ein immer finstereres Gesicht und schüttelt den Kopf; er deutet an, daß die geistigen Organe völlig zerrüttet seien; er spricht noch nicht positiv von Unheilbarkeit, bedient sich aber sehr trauriger Wendungen. Jewgeni Pawlowitsch nimmt sich das sehr zu Herzen, und er hat ein Herz, was er schon dadurch bewiesen hat, daß er von Kolja Briefe empfängt und sogar manchmal auf diese Briefe antwortet. Aber außerdem ist uns auch noch ein merkwürdiger Charakterzug an ihm bekannt geworden, und da dies ein guter Charakterzug ist, so wollen wir uns beeilen, ihn mitzuteilen: nach jedem Besuch des Schneiderschen Instituts schickt Jewgeni Pawlowitsch außer an Kolja auch noch an eine andere Person in Petersburg einen Brief mit einer sehr eingehenden, teilnahmsvollen Darstellung des Krankheitszustandes des Fürsten im vorliegenden Augenblick. Außer den respektvollsten Versicherungen von Ergebenheit beginnen in diesen Briefen manchmal (und zwar mit zunehmender Häufigkeit) offenherzige Darlegungen von Ansichten, Anschauungen und Empfindungen eine Stelle zu finden, kurz es entwickelt sich da etwas, was mit freundschaftlichen, herzlichen Gefühlen Ähnlichkeit hat. Diese Person, die in einem wenn auch nur ziemlich seltenen Briefwechsel mit Jewgeni Pawlowitsch steht und in so hohem Grad seine Aufmerksamkeit und Hochachtung genießt, ist Wjera Lebedjewa. Wir haben nicht mit Sicherheit in Erfahrung zu bringen vermocht, auf welche Weise solche Beziehungen haben entstehen können; aber gewiß verdanken sie ihren Ursprung eben diesem Begebnis mit dem Fürsten, als Wjera Lebedjewa von dem Kummer darüber dermaßen erschüttert war, daß sie sogar krank wurde; aber wie im einzelnen sich die Bekanntschaft und Freundschaft bildete, das ist uns unbekannt. Erwähnt haben wir diese Briefe besonders im Hinblick darauf, daß in manchen von ihnen Nachrichten über die Familie Jepantschin und namentlich über Aglaja Iwanowna Jepantschina enthalten waren. Über die letztere teilte Jewgeni Pawlowitsch in einem ziemlich verworrenen Brief aus Paris mit, daß sie nach einem kurzen, aber sehr leidenschaftlichen Attachement an einen Emigranten, einen polnischen Grafen, diesen plötzlich gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet habe; wenn diese auch schließlich ihre Einwilligung gegeben hätten, so hätten sie es doch nur deshalb getan, weil die Sache gedroht habe, sich zu einem schrecklichen Skandal zu entwickeln. Dann, nach einem fast halbjährigen Stillschweigen, teilte Jewgeni Pawlowitsch, wieder in einem langen, ausführlichen Brief, mit, daß er bei dem letzten Besuch, den er dem Professor Schneider in der Schweiz gemacht habe, bei ihm mit der ganzen Familie Jepantschin zusammengetroffen sei (natürlich mit Ausnahme von Iwan Fjodorowitsch, der wegen seiner Geschäfte in Petersburg geblieben war), sowie mit dem Fürsten Schtsch. Es war ein seltsames Wiedersehen; sie begrüßten Jewgeni Pawlowitsch alle mit einer Art von Entzücken; Adelaida und Alexandra glaubten aus nicht recht verständlichem Grund ihm sogar dankbar sein zu müssen für seine »engelhafte Fürsorge für den unglücklichen Fürsten«. Als Lisaweta Prokofjewna den Fürsten in seinem kranken, kläglichen Zustand erblickte, weinte sie von Herzen. Es schien, daß ihm alles schon verziehen sei. Fürst Schtsch. sprach bei diesem Anlaß einige sehr treffende, verständige Gemeinplätze aus. Jewgeni Pawlowitsch hatte den Eindruck, daß Fürst Schtsch. und Adelaida sich noch nicht vollständig ineinander eingelebt hätten; aber für die Zukunft schien es unvermeidlich, daß die feurige Adelaida sich durchaus gutwillig und von ganzem Herzen dem Verstand und der gereiften Erfahrung des Fürsten Schtsch. unterordnen werde. Die ernsten Lehren, die die Familie empfangen hatte, hatten stark auf dieselbe gewirkt, und namentlich der letzte Fall mit Aglaja und dem gräflichen Emigranten. Alle Befürchtungen, die die Familie gehegt hatte, als sie diesem Grafen Aglaja überließ, hatten sich bereits ein halbes Jahr darauf verwirklicht, und es waren noch unangenehme Überraschungen hinzugekommen, an die kein Mensch vorher gedacht hatte. Es hatte sich herausgestellt, daß dieser Graf gar nicht einmal ein Graf war, und mochte er auch tatsächlich ein
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