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Der Idiot

Titel: Der Idiot
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
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etwa ein halber Eßlöffel voll auf das Hemd herausgelaufen, nicht mehr ...«
    »Das, das, das«, stammelte der Fürst und richtete sich in furchtbarer Erregung auf, »das, das kenne ich; das habe ich gelesen ... das nennt man innere Verblutung ... Es kommt vor, daß kein einziger Tropfen herausfließt. Das ist so, wenn der Stoß gerade ins Herz gegangen ist ...«
    »Halt, hörst du?« unterbrach ihn auf einmal Rogoschin hastig und setzte sich erschrocken auf dem Lager aufrecht. »Hörst du?«
    »Nein!« erwiderte ebenso hastig und erschrocken der Fürst und sah Rogoschin an.
    »Es geht jemand! Hörst du? Im Saal ...«
    Beide begannen zu horchen.
    »Ich höre es«, flüsterte der Fürst in festem Ton.
    »Geht jemand?«
    »Ja.«
    »Wollen wir die Tür zuschließen oder nicht?«
    »Wir wollen sie zuschließen ...«
    Sie schlossen die Tür zu und legten sich beide wieder hin. Sie schwiegen lange.
    »Ach ja!« flüsterte der Fürst auf einmal in der früheren aufgeregten, hastigen Manier, wie wenn er wieder einen Gedanken erhascht hätte und ängstlich befürchtete, ihn wieder zu verlieren; er sprang sogar auf seinem Lager ein wenig in die Höhe. »Ja ... ich wollte ja ... diese Karten! Die Karten! Ich höre, du hast mit ihr Karten gespielt?«
    »Ja, das habe ich getan«, erwiderte Rogoschin nach einigem Stillschweigen.
    »Wo sind denn ... die Karten?«
    »Die Karten sind hier ...«, versetzte Rogoschin, nachdem er noch länger geschwiegen hatte. »Da ...«
    Er zog ein gebrauchtes, in Papier gewickeltes Spiel Karten aus der Tasche und reichte es dem Fürsten. Dieser nahm es, aber mit einer Art von Befremden. Ein neues, trauriges, trostloses Gefühl schnürte ihm das Herz zusammen; er wurde sich auf einmal bewußt, daß er in diesem Augenblick und schon längst immer nicht von dem redete, wovon er reden mußte, und immer nicht das tat, was er tun mußte, und daß diese Karten, die er in den Händen hielt, und über die er sich so freute, jetzt zu nichts helfen konnten, zu gar nichts. Er stand auf und schlug die Hände zusammen. Rogoschin lag da, ohne sich zu rühren, und schien seine Bewegung weder zu hören noch zu sehen; aber seine Augen leuchteten hell durch die Dunkelheit und waren weit geöffnet und starr. Der Fürst setzte sich auf einen Stuhl und begann ihn angstvoll anzusehen. So verging etwa eine halbe Stunde; auf einmal fing Rogoschin an, laut und stoßweise zu schreien und zu lachen, wie wenn er vergessen hätte, daß sie nur flüsternd reden durften: »Den Offizier, den Offizier ... erinnerst du dich, wie sie den Offizier beim Konzert mit dem Spazierstöckchen ins Gesicht schlug, erinnerst du dich? Hahaha! Und wie der Leutnant hinzusprang ... Der Leutnant ... der Leutnant ...«
    Der Fürst sprang in neuem Schrecken vom Stuhl auf. Als Rogoschin verstummt war (und das geschah plötzlich), beugte sich der Fürst leise zu ihm herab, setzte sich neben ihn und begann mit stark klopfendem Herzen und nur mühsam atmend ihn zu betrachten. Rogoschin drehte den Kopf nicht zu ihm hin und schien seine Anwesenheit ganz vergessen zu haben. Der Fürst sah ihn an und wartete; die Zeit verging; es begann hell zu werden. Rogoschin fing mitunter plötzlich an zu murmeln, laut, scharf und unzusammenhängend; er schrie und lachte; der Fürst streckte dann seine zitternde Hand nach ihm aus und berührte leise seinen Kopf und sein Haar, streichelte dieses und streichelte seine Wangen ... mehr vermochte er nicht zu tun! Er selbst begann wieder zu zittern, und seine Beine waren auf einmal wieder wie gelähmt. Eine ganz neue Empfindung quälte sein Herz mit grenzenlosem Kummer. Unterdessen war es ganz hell geworden; er legte sich endlich ganz kraftlos und verzweifelt auf das Kissen und schmiegte sein Gesicht an das blasse, regungslose Gesicht Rogoschins. Tränen strömten aus seinen Augen auf Rogoschins Wangen; aber vielleicht fühlte er damals schon seine eigenen Tränen nicht mehr und wußte nichts mehr von ihnen; wenigstens wies der weitere Verlauf darauf hin.
    Als viele Stunden nachher die Tür geöffnet wurde und Leute hereinkamen, fanden sie den Mörder in voller Bewußtlosigkeit und in starkem Fieber. Der Fürst saß, ohne sich zu rühren, neben ihm auf dem Lager und fuhr jedesmal, wenn der Kranke aufschrie oder zu phantasieren begann, ihm mit seiner zitternden Hand eilig über das Haar und die Wangen, wie wenn er ihn liebkosen und beruhigen wollte. Aber er verstand nicht mehr, wonach man ihn fragte, und erkannte nicht mehr die
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