Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Idiot

Titel: Der Idiot
Autoren: Fëdor Michajlovic Dostoevskij
Vom Netzwerk:
dann wieder zu Rogoschin zu gehen, wie ihm geraten worden war, setzte sich auf das Sofa, stützte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch und dachte nach.
    Gott weiß, wie lange er so dasaß, und Gott weiß, woran er dachte. Vieles war es, was ihn ängstigte, und mit Schmerz und Qual war er sich dieser Angst bewußt. Es fiel ihm Wjera Lebedjewa ein; dann dachte er, daß Lebedjew vielleicht etwas von dieser Sache wisse oder, wenn er nichts davon wisse, vielleicht schneller und leichter als er etwas darüber in Erfahrung bringen könne. Dann dachte er an Ippolit und daran, daß Rogoschin zu Ippolit gefahren war. Dann dachte er an Rogoschin selbst: an dessen neuliche Anwesenheit bei der Seelenmesse; dann an die Begegnung im Park; dann auf einmal an die Begegnung hier im Korridor, als er sich damals im Winkel versteckt hatte und mit dem Messer auf ihn wartete. Jetzt fielen ihm seine Augen ein, die Augen, die ihn damals in der Dunkelheit angeschaut hatten. Er fuhr zusammen: der Gedanke, der sich ihm vorhin hatte aufdrängen wollen, kam ihm jetzt plötzlich in den Kopf.
    Dieser Gedanke bestand zum Teil darin, daß Rogoschin, wenn er in Petersburg war, mochte er sich auch zeitweilig vor ihm verbergen, dennoch unter allen Umständen schließlich zu ihm, dem Fürsten, kommen werde, sei es in guter, sei es in schlechter Absicht, vielleicht in derselben wie damals. Jedenfalls konnte Rogoschin, wenn er aus irgendeinem Grund zu ihm kommen wollte, nirgend anderswohin gehen als hierher, wieder nach diesem selben Korridor. Eine Adresse hatte der Fürst bei Rogoschin nicht hinterlassen; also konnte dieser sehr wohl denken, daß der Fürst wieder in dem früheren Gasthaus abgestiegen sei. Jedenfalls war zu erwarten, daß er versuchen werde, ihn hier zu finden ... wenn er großes Verlangen nach ihm trage. Und wie konnte man es wissen, vielleicht trug er wirklich schon großes Verlangen nach ihm.
    So dachte er, und diese Vermutung schien ihm durchaus möglich. Er würde, wenn er sich in diesen Gedanken vertieft hätte, nicht imstande gewesen sein, manche Fragen befriedigend zu beantworten: zum Beispiel warum Rogoschin so plötzlich Verlangen nach ihm bekommen solle, und warum es unmöglich sein solle, daß sie schließlich überhaupt nicht zusammenkämen. Aber der Fürst sagte sich in sehr gedrückter Stimmung weiter: »Wenn es ihm gutgeht, wird er nicht kommen; eher, wenn es ihm schlechtgeht; und es wird ihm gewiß schlechtgehen ...« Infolge dieser Überzeugung hätte er nun allerdings auf Rogoschin zu Hause, in seinem Gasthofszimmer, warten sollen; aber es war, als könne er seinen neuen Gedanken nicht ertragen; er sprang auf, ergriff seinen Hut und lief hinaus. Auf dem Korridor war es schon fast ganz dunkel. »Wie, wenn er jetzt plötzlich aus jenem Winkel heraustritt und mich auf der Treppe anhält?« ging es ihm durch den Kopf, als er sich der bekannten Stelle näherte. Aber niemand trat heraus. Er stieg die Treppe hinunter, ging unter dem Tor hindurch, trat auf das Trottoir hinaus, wunderte sich über den dichten Menschenschwarm, der mit Sonnenuntergang auf die Straße hinausströmte (wie das in Petersburg zur Hundstagszeit immer der Fall ist), und schlug die Richtung nach der Gorochowaja-Straße ein. Als er sich von seinem Gasthaus fünfzig Schritte entfernt hatte, berührte bei der ersten Straßenkreuzung auf einmal jemand in der Menge seinen Ellbogen und sagte halblaut dicht an seinem Ohr:
    »Ljow Nikolajewitsch, komm mit mir mit, Bruder; ich bedarf deiner.«
    Es war Rogoschin.
    Sonderbar: der Fürst begann auf einmal so erfreut, daß er stammelte und die Worte kaum zu Ende sprach, ihm zu erzählen, wie er ihn soeben im Gasthaus auf dem Korridor erwartet habe.
    »Ich war dort«, erwiderte Rogoschin zu seiner Überraschung. »Komm mit!«
    Der Fürst wunderte sich über diese Antwort; aber er wunderte sich erst mindestens zwei Minuten später, nachdem er die Antwort überlegt hatte. Bei dieser Überlegung erschrak er und begann Rogoschin aufmerksam zu betrachten. Dieser war ihm schon fast einen halben Schritt vorausgekommen; er schaute gerade vor sich hin und blickte keinen der Passanten an, wich aber allen mit mechanischer Vorsicht aus.
    »Warum hast du mich nicht auf meinem Zimmer aufgesucht ... wenn du doch im Gasthaus warst?« fragte der Fürst auf einmal.
    Rogoschin blieb stehen, sah ihn an, dachte ein Weilchen nach und sagte dann, wie wenn er die Frage nicht verstanden hätte:
    »Weißt du was, Ljow Nikolajewitsch, geh du
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher