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Der Hinterhalt

Der Hinterhalt

Titel: Der Hinterhalt
Autoren: Trevor Shane
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dass sie das, was sie in der Hand hielt, fallen lässt. Doch das war nicht nötig. Ich hörte ein leises Klimpern. Sie griff nur nach ihrem Schlüsselbund.
    Die Bäume warfen Schatten auf den Bürgersteig, und sie ging mit schnellen Schritten durch Licht und Dunkel. Noch drei Häuser, dann würde sie nach links zu dem Sandsteinhaus abbiegen, in dem sie wohnte. Ich gab mir alle Mühe, meinen Puls zu kontrollieren. Durch meinen Organismus begann Adrenalin zu strömen, von dem ich gehofft hatte, es sei nicht nötig. Wahrscheinlich reagierte ihr Körper genauso wie meiner. Sie ging schneller, sträubte sich aber noch immer dagegen zu rennen. Ich machte weiterhin große, gleichmäßige Schritte und konnte dadurch den Abstand zwischen uns weiter verringern, bis ich sie beinahe berührte.
    Inzwischen wusste sie Bescheid. Sie muss Bescheid gewusst haben. Ich war nur noch anderthalb Schritte hinter ihr. Sie muss sich ihrem Schicksal mehr oder weniger ergeben haben. Vermutlich schossen ihr gewisse Gedanken durch den Kopf, womöglich dachte sie mit Bedauern darüber nach, was sie hätte anders machen können, um ihre Haut zu retten. Ich bin sicher, ihr ging durch den Kopf, wie dumm es von ihr gewesen war, abends allein nach Hause zu gehen, auch wenn sie das schon hunderte Male getan hatte. Jahrelang. Über Jahre hinweg angenehme Spaziergänge durch die ruhigen Straßen von Brooklyn nach einem Tag ehrlicher Arbeit. Brooklyn war ihr Zuhause. Zwölf Jahre. Zwei Kinder. Wer weiß, wie viele schöne Erinnerungen … Könnte sie trotzdem schreien? Was wäre, wenn ihr Schreien ihre Kinder wecken würde? Sie wollte sie nicht erschrecken. Das wusste ich. Was hätte sie also anders machen können? Sie hätte ihre Kinder am Morgen umarmen können. Sie hätte ihnen sagen können, wie sehr sie sie liebt. Sie hätte den armen vierjährigen Eric nicht so anzufahren brauchen, als er seine Cornflakes auf dem Küchenboden verschüttete.
    Ich erinnerte mich an jenen Augenblick am Morgen zurück, als ich sie von der Eingangstreppe auf der gegenüberliegenden Straßenseite durchs Küchenfenster beobachtet hatte und gerne etwas zu ihr gesagt hätte. Ich hätte sie gerne wissen lassen, wie sehr sie es noch bereuen würde, ihr Kind so anzuschreien. Lass ihn seine Cornflakes doch verschütten, dachte ich, als es passierte, lass ihn sie doch verschütten. Selbstverständlich hatte ich nichts gesagt.
    Jetzt, ein Haus vor dem, in dem sie wohnte, ging ich meinen Plan in Gedanken noch einmal durch. Während ich das tat, drehte sie sich nach links und drückte das kleine Tor auf, das zu ihrer Wohnung führte. Ich war ihr dicht genug auf den Fersen, um das Tor auffangen zu können, ehe es wieder ins Schloss fiel. Inzwischen konnte ich sie sogar atmen hören. Aus ihrer Wohnung drangen die Geräusche eines Fernsehers an mein Ohr. Ihre Babysitterin musste ihn eingeschaltet haben.
    Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, mir den Ausdruck darin aber vorstellen. In diesem Augenblick muss er Panik oder Entschlossenheit verraten haben, entweder oder. Ich hatte schon beides gesehen und hoffte auf Entschlossenheit. Panik konnte das Ganze zu einer schmutzigen Angelegenheit machen. Bevor sie einen Fuß auf die unterste Stufe der Treppe setzen konnte, die zu ihrer Wohnungstür führte, streckte ich die Hand aus und packte sie fest am Handgelenk. Ich griff nach der Hand, in der sie die Schlüssel hielt, damit sie diese nicht als Waffe benutzen konnte. Das war ihr nämlich mit Sicherheit irgendwann beigebracht worden. »Geh auf die Augen los«, hatte sie gelernt. Alle Frauen lernen das. Nachdem ich sie am Handgelenk gepackt hatte, drehte ich sie zu mir her und presste ihr meine freie Hand auf den Mund, bevor sie mehr als ein kurzes Keuchen ausstoßen konnte.
    Wir standen uns gegenüber. Im Licht konnte sie einen flüchtigen, aber deutlichen Blick auf mein Gesicht erhaschen, der sie in einem Punkt bestätigt haben muss: Sie kannte mich nicht. Ich drängte sie rückwärts ins Dunkel neben der Treppe; dabei entwand ich ihr den Schlüsselbund und ließ ihn auf den weichen Boden neben dem Eingang zur Gartenwohnung fallen. Sie wohnte in einem für Brooklyn typischen Sandsteinhaus, bei dem sich die Tür zur Gartenwohnung leicht zurückgesetzt unterhalb der Treppe zum Haupteingang befand. Ich drängte sie weiter zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Tür gepresst dastand. Hier wurden wir von Dunkelheit verschluckt. Niemand konnte uns sehen. Niemand würde sie sterben sehen. Jeder
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