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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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fort, nickte vor Erschöpfung ein, erwachte, vergoss unentwegt Tränen, die wie Bäche flossen, und manchmal schaute er nach oben und schimpfte und fluchte. Eigentlich hatte man ihm auch nicht gerade wenig zugesetzt. Ein Fußtritt hatte ihn unterhalb der Rippen getroffen, und immer wieder stach ihn dort ein messerscharfer Schmerz. Auch er hatte blaue Flecken und Schwellungen im Gesicht, machte sich aber nichts daraus. Die Hilfsangebote Halils lehnte er ab. Er ging nur einmal kurz ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen, dann ließ er sich wieder neben Güldanes Füße nieder. Als er nach seinem Dämmerschlaf merkte, dass Güldane umgekleidet worden war und ein neues Nachthemd trug, wurde er am ganzen Körper steif vor Eifersucht, aber da sah er Halils Blick und beruhigte sich. Das waren nicht die Augen eines Schürzenjägers, der versucht, die Situation für sich auszunutzen, sondern die einer ängstlichen Taube, die an einem sicheren Ort, fern von den Menschen, ein Nest sucht.
    Güldane wachte in den ersten vierundzwanzig Stunden nur zweimal auf. Oder eher: sie öffnete die Augen. Halil und Yunus waren sofort bei ihr. Sie sprachen auf sie ein, jetzt sei alles in Ordnung, niemand könne ihr etwas Böses tun und sie werde wieder gesund. Sie versuchten, ihr mit einem Löffel Zuckerwasser zu geben. Die Hälfte der Flüssigkeit rann aus ihrem Mundwinkel heraus auf ihr Nachthemd, die andere Hälfte konnte sie herunterschlucken. War das eine Freude für die beiden, als sie schluckte!
    Im Laufe der folgenden Tage, an denen Güldane mal schlief und mal wach lag, sich aufrichtete, hinsetzte oder im Schlaf vor Schmerzen das Gesicht verzog, verließ Yunus nicht das Fußende des Bettes und Halil wich ihr nie von der Seite.
    »Sollen wir sie vielleicht ins Krankenhaus bringen?« fragte Yunus einige Male, aber Halil glaubte unerschütterlich daran, dass er sie heilen würde. Jeden Tag kochte er Suppe für Güldane, verband ihre Wunden, prüfte ihr Fieber, jeden Tag kämmte er ihr Haar und versuchte jede Sekunde, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, selbst wenn sie ihre Augen geschlossen hielt.
    Tatsächlich heilten die sichtbaren Wunden Güldanes schnell. Nach einigen Tagen konnte sie, wenn auch in kleinen Mengen, flüssige Nahrung zu sich nehmen. Doch ihr Gesicht war immer kreidebleich, ihr Blick stockdüster.
    Halils Geduld, Treue und Aufmerksamkeit ließen nie nach. Er schlief sehr wenig. Die Aufgaben, die er sich selbst gegeben hatte, führte er tadellos aus. An Wasser, Essen, Medikamenten und Lavendel ließ er es nie fehlen. In keinem einzigen Moment spürte er Ermüdung oder Überdruss. Mit jedem Bissen, den Güldane zu sich nahm, jedem Schluck, den sie trank, lebte auch Halil wieder auf.
    Und dann, eines Tages, erwachte Güldane anders als sonst. Auf ihren Wangen lag eine leichte Röte, in ihren Augen eine Ahnung von Licht. Sie drehte sich zu Yunus und sagte: »Ich habe Lust auf Schokolade.«
    Yunus und Halil schauten sich an. Sie wären vor Freude fast ausgeflippt. Yunus rannte beflügelt los, um Schokolade zu kaufen. Halil setzte sich zu Güldane. Er schaute sie an und begann, jeden Augenblick ihres Daseins, jedes einzelne Haar, ihre feuchten Augenwinkel, die Linien ihrer Lippen, jede einzelne Sommersprosse und jede Nuance ihres Gesichts in die Leere seines Gedächtnisses einzusaugen.
    Benommen wie jemand, der aus einem langen Schlaf erwacht, sah sich Güldane um. Schließlich bemerkte sie das Nachthemd an ihrem Körper.
    »Hast du das gekauft?«
    Halil nickte. »Gefällt es dir nicht?«, fragte er mit aufrichtiger Sorge.
    »Doch«, sagte Güldane. »Natürlich gefällt es mir.« Sie berührte das Band der Schleife, das auf ihre Brust hinunterhing. »Sogar mit roter Schleife«, sagte sie.
    In diesem Moment glaubte Halil zu schweben. Er wünschte sich, alle roten Schleifen der Welt aufsammeln und sie Güldane zu Füßen legen zu können. Wie schön war das, was für ein unglaublicher Augenblick! Wie gut hatte er daran getan, dieses Nachthemd zu kaufen! »Natürlich«, sagte er, »sogar mit roter Schleife.«
    Güldanes traurige, erschöpfte Augen lösten sich vom roten Band und richteten sich auf Halil. »Warum bist du nicht gekommen?«, fragte sie.
    Halil fuhr zusammen. Er wusste nicht, wie er Güldanes Blick entfliehen, wo er hinschauen sollte. Verzweifelt sah er von einer Ecke des Zimmers zur anderen. »Ich wusste aber nicht«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass du auf mich wartest.«
    »Ich hab’s doch gesagt«,
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