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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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erzählten, der Fahrer sei »irgendwie seltsam« gewesen und hätte sie woanders hingebracht als sie wollten. Der Chef hatte zunächst gedacht, vielleicht fährt ja unser Schlitzohr Umwege, aber später gemerkt, dass dem nicht so war und Halil ohne jede Logik die Leute irgendwohin fuhr und dort rausließ. Und ein paarmal hatte es geheißen, er würde losfahren, bevor sein Fahrgast richtig ein- oder ausgestiegen war. Das war ein ernstes Problem. Es könnte nämlich mit einem Unfall enden, der allen Kopfschmerzen bereiten würde. Was fehlte ihm? War er etwa krank? Hatte dieser Unfall einen bleibenden Schaden hinterlassen? Vielleicht wäre es gut, wenn er einen Arzt aufsuchen würde?
    Halil lächelte den Chef sanft an. »Mach dir keine Sorgen, Abi«, meinte er. »Mir geht es gut, Gott sei Dank. Ich bin gesund wie ein Stier.«
    Das verwirrte den Chef völlig. Er redete eine Weile um den heißen Brei herum und sagte schließlich: »So können wir nicht weitermachen, Halil. Vielleicht ist es besser, wenn du dir was anderes suchst.«
    Dann rechnete er aus, wer noch wie viel bekam, und verabschiedete Halil mit traurigem, besorgtem Blick.
    Aber Halil war kein bisschen traurig. Das Glücksgefühl, das sich seit einiger Zeit in ihm eingenistet hatte, schützte ihn wie ein stählerner Panzer. Er wollte ohnehin die Arbeit kündigen, was machte es für einen Unterschied, ob es jetzt passierte oder in einigen Tagen? Von den anderen am Taxistand verabschiedete er sich nicht wie jemand, der gerade entlassen worden war, sondern wie einer, der in den Urlaub fährt.
    Weder der Chef begriff, was das alles zu bedeuten hatte, noch die anderen Fahrer. Trotzdem verspürten sie eine heimliche Erleichterung, weil Halil, der zwar keinem von ihnen etwas Böses getan hatte, aber immer mehr zu einem »Fremden« geworden war, nicht mehr dort arbeiten würde. Jedenfalls war geschehen, was geschehen musste.
    Nach dem Abschied suchte Halil gleich seine Bank auf. Er hob seine ganzen Ersparnisse ab, kaufte etwas zu essen und eine Flasche Rakı und ging dann nicht mehr aus dem Haus. Mit einem glückseligen Dauerlächeln machte er sich daran, auf Güldane zu warten.
    Er hatte sich allmählich von dem Chaos befreit, das ihn seit einiger Zeit ermüdet und beunruhigt hatte. In seinem Gedächtnis waren, abgesehen von denen mit Güldane, sehr wenige Erinnerungen geblieben. Ein paar Bilder aus der Kindheit, kurze Abrisse aus der Schulzeit, einige Fotografien Istanbuls, beim Vorbeifahren mit dem Taxi aufgeschnappt … Ruhige, kleine Momente, die keinen tieferen Sinn ergaben, aber auch nicht wehtaten, die nicht große Glücksgefühle vermittelten, aber auch keine Sorgen verursachten …
    Ohnehin hatte sich Güldane in Halil so weit ausgebreitet, dass er andere Erinnerungen weder brauchte, noch Platz für sie hatte. Zum Beispiel hatte er sich hunderte Male vorgestellt, wie sie zu ihm kommt und sich auf den Sessel setzt, und hatte jedes einzelne Mal in sein Gedächtnis eingemeißelt. Aus den Kleidern, die er bis dahin an Güldane gesehen hatte und zu sehen wünschte, hatte er ihr in seiner Phantasie eine riesige Garderobe zusammengestellt. Er hatte tausendmal ihre Haare gekämmt und sich jedes einzelne Haar, seine Länge, seine Farbe, seine Windungen eingeprägt. Dann gab es noch die Düfte Güldanes. Der Duft ihres Halses, der ihres Atems, ihrer Hände, ihrer Lippen, ihres Kinns … In Halils Gedächtnis hatten alle ihr eigenes Zimmer. Wer weiß wie oft hatte er in seinen Tagträumen Güldanes Vorführung ganz allein gesehen. Güldane zog sich dann nur für ihn aus, nur für ihn tanzte sie, mit ihren schönen smaragdgrünen Augen schaute sie nur ihn an. Selbst in tiefschwarzen Nächten konnten sie einander sehen … selbst in finsterster Dunkelheit!
    Tagelang, wochenlang wartete Halil auf die geliebte Frau. Sie würde kommen und dann würden sie zusammen weit weg ziehen. Halil würde nicht einmal fragen, wohin. Er würde mitgehen, wohin sie wollte. Einige Male dachte er daran, sie aufzusuchen, schickte sich aber nie an, das auch wirklich zu tun. Irgendwo ganz tief in seinem Herzen nagte sein Verdacht, das könnte alles nur Einbildung sein, und er wollte sich auf keinen Fall vor Güldane blamieren, indem er ihr Hirngespinste erzählte. Trotz seiner ganzen Wünsche, trotz all der Hoffnungen, die er sich machte, hinderte ihn sein Stolz, etwas zu unternehmen, und er zog es vor, auf Güldane zu warten, auch wenn es ihm alles andere als leichtfiel. Güldane würde
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