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Der hinkende Rhythmus

Der hinkende Rhythmus

Titel: Der hinkende Rhythmus
Autoren: Gaye Boralıoğlu
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schluckten. Dann zog sie ihren Pullover aus. Die Männer hielten die Luft an. Sie öffnete die Knöpfe ihres Hemds. Die Männer zuckten bei jedem Knopf einmal mit den Wimpern. Sie zog das Hemd aus. Die Männer regten sich. Mit möglichst langsamen Bewegungen streifte sie ihren Rock hinunter. Die Männer waren außer Atem.
    Güldane hatte sich gerade hinuntergebeugt, um ihr T-Shirt, das ihr bis auf die Oberschenkel reichte, auszuziehen, als sie sich völlig kraftlos fühlte. Sie merkte, dass sie nicht weitermachen konnte. Und traf ihre Entscheidung. Sie blies die Kerze aus und zog den Vorhang zu. Die Männer erstarrten, die Hände in ihren Lenden.
    Güldane ging sofort ins Bett und deckte sich zu. Mit einem Satz erschien Yunus neben ihr.
    »Was ist los?«, fragte er.
    »Es ist zu Ende.«
    »Du hast früh abgebrochen«, sagte Yunus.
    »Das reicht für heute Abend. Ich habe keine Kraft.«
    »Aber …«, wollte er widersprechen.
    »Ich muss schlafen«, unterbrach ihn Güldane und zog die Decke über den Kopf.
    Während Yunus noch verwirrt und unsicher herumstand, wurde bumm! bumm! an die Tür gehämmert. Yunus erschrak. Güldane blieb unbeeindruckt.
    Erneut wurde an die Tür geschlagen, diesmal mit größerer Wucht, bumm! bumm! bumm!
    Güldane schaute unter der Decke hervor. »Was soll das jetzt?«, fragte sie.
    Noch bevor Yunus den Mund aufmachen konnte, wurde an der Tür gerüttelt und im Schloss herumgestochert. Beide fuhren erschrocken hoch. »Bleib hier«, sagte Yunus und ging zur Tür.
    Er versuchte, auf die Kerle draußen beruhigend einzureden und ihnen zuzuhören, aber der Pulk hatte keine Ohren und was ihnen aus dem Mund kam, war nur ein Geknurre und Gefauche.
    Schließlich hielt die notdürftig angebrachte Tür dem Druck nicht mehr stand. Sie sprang sperrangelweit auf. Eine Masse von Männern unterschiedlichster Körpergröße, Leibesfülle und Visage, aber mit dem gleichen Blick in den Augen, fiel brüllend und polternd in das Haus ein. Ihr Anführer war der halbwüchsige Merdan, dem noch nicht einmal ein Flaumbart gewachsen war.
    Sie waren belogen worden. Sie waren betrogen worden. Schon zum wievielten Mal. Man wollte sie wohl für dumm verkaufen. Sie wollten ihr Geld. Sie wollten Güldane.
    Der arme Yunus zitterte wie Espenlaub vor der unbändigen Menge. Trotzdem stellte er sich ihnen in den Weg, wollte sie aufhalten. »Meine Brüder«, sagte er, »Abi«, »bitte nicht», »ich flehe euch an«, sagte er, aber es war alles vergeblich.
    Als sie Güldane erblickten, die mit feuerspeienden Augen und einem Messer in der Hand vor ihnen stand und sie aus voller Kehle beschimpfte, zögerten sie kurz, aber nur kurz; niemand hätte die Macht gehabt, dieser lüsternen, entfesselten Meute Einhalt zu gebieten.
    Es dauerte nicht länger als ein Wimpernschlag, bis sie Güldane das Messer aus der Hand rissen, sie an den Haaren packten und zu Boden warfen. Der erste Tritt traf ihren Bauch, der zweite ihre Schulter … der dritte … der vierte …
    Das Märchenwesen, das sie über so viele Jahre hinter einem winzigen Fenster gesehen, dem sie in ihrer Phantasie so viele Geschichten zugedichtet hatten, war jetzt in ihren Händen, in ihrem Griff. All ihre Tagträume, durch die Güldane gewandert war, alle Geschichten, die sie sich erdacht hatten, zerbarsten in ihren Köpfen; kein einziges Wort blieb übrig, das sie hätte aufhalten können. Sie hingen alle an einem unsichtbaren Draht, einem Stromdraht, der ihre Gehirne miteinander verband. Dieser Strom machte ihre Gesichter gleich und heftete ihre Blicke an einen einzigen Punkt. Sie überließen sich dem berauschenden Vergnügen, für dasselbe Ziel handeln zu können, ohne dafür ein Wort oder ein Zeichen zu benötigen. Alle Erinnerungen der Vergangenheit und die Möglichkeiten der Zukunft waren mit einem Mal und restlos aus ihren Köpfen verflogen. Im Gegensatz zu der furchtbaren Leere, die in ihrem Geist aufklaffte, hatten sie einen starken Glauben in ihren Herzen. Ein grenzenloser Glaube daran, eine große Sünde, an der eigentlich auch sie beteiligt waren, aus der Welt schaffen und dadurch wieder rein werden zu können – und das jetzt gleich vollenden zu müssen. Als wären sie durch einen einzigen erhabenen Geist inspiriert, zerschlugen sie Güldanes Leben mit ihren Händen, ihren Fußtritten und Fäusten, ihren Körpern und Seelen in Scherben.
    Güldane wehrte sich eine Zeitlang, so gut sie konnte. Sie grub ihren Kopf zwischen die Hände, rollte sich zusammen wie die
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