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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Kasakstan, Nomadenlieder Innerasiens.
    Die Moskauer Milizsoldaten saßen in den Wagen und staunten.
    »Ihr wollt Deutsche sein, Brüderchen?« fragte einer von ihnen. »Warum singt ihr keine deutschen Lieder?«
    Die jungen Bauern sahen sich an. Deutsche Lieder. Verdammt, wie lange ist es her, daß wir ein deutsches Lied sangen? Immer Arbeit in der Kolchose oder Sowchose, immer Pferde und Kühe hüten in der Steppe, immer mit dem Traktor über die Felder rasseln … wo blieb da der Sinn für ein deutsches Lied?
    Die alten Bauern sahen zu Boden. Sie schämten sich. Plötzlich, je näher sie der wirklichen Heimat kamen, die sie nicht kannten, kam Scham in ihnen hoch, daß sie deutsche Namen trugen, aber russisch dachten und gelebt hatten.
    »Was wollt ihr hören?!« schrie der Rothaarige wieder. »Deutschland, Deutschland über alles …?«
    »Ich schlage dir die Zähne ein, Genosse, wenn du's tust«, sagte der Milizsoldat. »Mein Vater ist bei Mogilew von den Deutschen erschossen worden.«
    »Das ist 15 Jahre her!« schrie der Rothaarige.
    »So etwas vergißt man nie!«
    Im Wagen Nr. 4 – die Wagen trugen große, weiße Ziffern auf der ersten Tür – hatte Erna-Svetlana die kleine Natascha auf dem Schoß. Sie schlief, das Köpfchen fest an die Mutter gedrückt. Boris saß am Fenster und starrte hinaus in den Abend, der schnell über das weite Land hereinbrach. Ein düsterer, fahlgrauer Schneehimmel hing über der Landschaft, schwer von Flocken, daß man darauf wartete, die Wolken könnten platzen.
    »Es ist kein Himmel wie in Kasakstan«, sagte Boris leise. »Wir fahren von der Sonne weg –«
    »Nicht daran denken, Bor.« Svetlana streichelte seine Hände, die auf der Fensterbrüstung lagen. »Auch in Deutschland wird es Sonne geben.«
    Der Gesang aus den anderen Wagen flatterte am Zug entlang. Boris schüttelte den Kopf.
    »Mein Vater hat damals auch gesungen«, sagte er nachdenklich. »Ich weiß es noch … Ganz dunkel kann ich mich entsinnen. Ich hatte den Kopf in Mutters Schoß gelegt und wollte schlafen. Aber ich konnte nicht schlafen, weil sie alle sangen. ›Laß uns singen, matja‹, sagte mein Vater und glänzte über das ganze Gesicht, ›wir kommen in ein Paradies!‹ – In diesem Paradies wurde er erschlagen … Ich kann nicht verstehen, daß sie heute wieder singen.«
    Kurz vor Borrisow starb eine junge Frau. Sie hatte während der Fahrt ein Kind bekommen, und da der Zug nicht hielt, sondern die Stationen durchfuhr, war sie im Wagen verblutet. Piotr Schaumann, der Ehemann, brüllte wie ein Irrsinniger … er wollte den Milizsoldaten seines Wagens erwürgen, er wollte aus dem Fenster springen, mit aller Wucht rannte er den Kopf gegen die Wagenwand. Nur mit roher Gewalt war er von den anderen zurückzuhalten, bis er zusammenbrach und kläglich weinte.
    In Borrisow endlich hielt der Zug. Der Milizsoldat machte Meldung beim Transportoffizier, der sofort angelaufen kam.
    »Welch ein Unglück«, sagte er auf deutsch. »Herr Schaumann, ich bedauere es tief. Aber wir haben Befehl, nur an bestimmten Plätzen zu halten, ganz gleich, was geschieht! Sie wissen – Befehle aus Moskau sind immer klar und haben keine Kommentare.«
    »Mörder seid ihr! Ganz gemeine Mörder!« heulte der junge Bauer.
    »Ich kann daran nichts ändern.« Der Offizier hob die Schultern. »Sicherlich gibt es in Deutschland Mädchen genug, die Sie heiraten wollen.«
    »Ich bring' ihn um!« schrie Piotr Schaumann. Seine Freunde hielten ihn wieder fest. Achselzuckend ging der Offizier zurück.
    Außerhalb Borrisows, dort wo der Zug hielt, neben dem Bahndamm, wurde die junge Frau begraben. Das tote Kind legte man ihr in den Arm, als wiege sie es in den Schlaf. Dann wurde sie in ein paar Decken gewickelt und in die Grube hinabgelassen, die man geschaufelt hatte.
    Piotr Schaumann war nicht dabei … er konnte es nicht mit ansehen. Er lag in seinem Abteil auf der Sitzbank und weinte haltlos.
    Ein alter Bauer sprach das Gebet. Verwundert sahen die Jungen, wie ihre Väter und Mütter die Hände falteten und beteten. Zuerst war es der lautstarke Rothaarige, der zögernd die Finger ineinanderlegte und den Kopf senkte. Dann folgten die anderen, die Komsomolzenschüler, die Jungbauern, die nichts kannten als die Parteidoktrin und den Kernspruch Lenins: Religion ist Opium fürs Volk!
    Das Gemurmel der fast 300 Menschen lockte die Milizsoldaten an. Mit umgehängten Maschinenpistolen sahen sie dem Schauspiel zu.
    »Mein Gott – ich rufe Dich«, sagte der
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