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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Minuten oder im Schnee verrecken!‹ schrie er ihn an. Wir müssen uns beeilen, Petrowna.«
    Sie nickte, aber sie blieb stehen, wo sie stand. Unbeweglich. Nur ihre Blicke begannen umherzuirren. Das Sofa … der Schaffellteppich, den die Großmutter geknüpft hatte … der Tisch, die Fenstervorhänge aus Kiew, die Rudolf einmal von einer großen Reise zu einer Parteitagung mitgebracht hatte. Die Lampe mit dem Holzperlenschirm … und nebenan … die Betten … die Kommode, der Kleiderschrank … und weiter … immer weiter … die Felder, die Kühe, die Schweine, die Hühner, Alko, der Wolfshund … und am Rande des Dorfes die Gräber … vor allem die Gräber … Stephan lag dort, das erste Kind. Es starb mit fünf Jahren an einer Lungenentzündung. Es hatte krause blonde Locken und hellblaue Augen, wie sein Vater. Moj ljubimez, stand auf der hölzernen Grabplatte (Mein Liebling).
    Mit langsamen, staksigen Schritten ging Vera Petrowna ans Fenster. Mischa, der Krüppel, stellte das Greinen ein. Fröhlich winkte Erna-Svetlana einem kleinen gleichaltrigen Mädchen zu, das in einen Steppmantel vermummt draußen im Schnee stand und lachend zurückwinkte.
    »Kommen sie zu Besuch, Mamuschka?! Ich will mit dem Mädchen spielen.« Erna-Svetlanas Augen glänzten. »Ob ihm der Kinderwagen gehört? Ob es eine große Puppe hat?«
    »Ich schirre die Pferde an!« rief Rudolf Bergner vom Schlafzimmer aus. »Zieh die Kinder an, Vera! Es sind nur noch 17 Minuten!«
    Auf dem Dorfplatz, vor dem Brunnen, stand Igor Igorowitsch Semjow und sah auf seine Uhr. Er tat es deutlich für alle, die zu ihm hinblickten. Es war fast, als zähle er die Sekunden mit, die in seiner großen fleischigen Hand vertickten.
    »Noch 10 Minuten, Genosse Kommissar«, sagte er zufrieden.
    »Was dann?« fragte Sergeij Pondrezkij. Er hatte alle Mühe, die neuen russischen Bauern abzuwehren, die sich beschwerten, daß sie im Schnee warten mußten.
    »Dann können wir einziehen. Dann fliegen diese Deutschen hinaus wie ein Bündel Stallmist. Es wird ein Fest werden, Genosse Kommissar.«
    Pondrezkij nickte. »Ich werde es nach oben melden, Igor Igorowitsch. Sie sind ein guter Organisator.«
    »Noch sieben Minuten«, sagte Semjow breit. Er schüttelte die Uhr, als solle sie schneller gehen. Dann verzog er sein Gesicht, faßte mit den Zähnen den Handschuh der rechten Hand, zog ihn aus und stellte die Zeiger der Uhr zwei Minuten vor.
    Die Zeit stimmte immer. Es galt nur eine Uhr, und das war seine.
    An zwei Minuten können ganze Völker sterben –
    »Dawai!« brüllte Semjow über den Dorfplatz zu den wartenden Russen. »Nehmt eure Sachen auf, Genossen! Noch fünf Minuten – es lebe der große Stalin …«
    »Noch sieben Minuten!« sagte Bergner und lud den Wagen auf. »Er kann keine Uhr haben, die schneller geht als meine!«
    Die ersten Wagen, hoch beladen mit Betten, Hausrat, Öfen, Möbeln und frierenden, dicht vermummten Menschen, bogen aus den Hofeinfahrten auf die Dorfstraße. Ihnen folgten die Kühe. Ein paar Schafe sprangen durch den hüfthohen Schnee … von den Wagen herab, zwischen den Betten und dem Hausrat, gackerten und schnatterten in kleinen Transportkörben die Hühner, Gänse und Enten.
    Igor Igorowitsch grinste genußvoll.
    »Alles beim Brunnen sammeln!« schrie er grell. »Und runter mit den Möbeln! Womit wollt ihr das Vieh ernähren bis Shitomir?! Von uns bekommt ihr keinen Halm Heu!« Er sah auf seine Uhr und hob die Hand! »Eine Stunde herum! Genossen!« brüllte er über die wartenden Russen vor den Häusern. »Es ist soweit. Nehmt Besitz von euren Häusern! Los!«
    Die wartenden Neubauern stürmten in die Höfe. Sie rissen die Türen auf, sie durchrannten alle Räume, sie stießen die Fenster auf und warfen hinaus in den Schnee, was noch in den Stuben lag … eine Puppe, eine halb geleerte Kanne mit Tee, Kisten und Stroh … zwei Häuser neben Bergner wurde der noch nicht mit Packen fertige Piotr mit Fußtritten aus seinem Haus gejagt und in den Schnee geworfen.
    »Meine Koffer!« schrie er. »Ich habe doch noch meine Koffer im Haus.«
    »Job twoje madj!« lachten die neuen Besitzer ihm nach. »Hitlärr gibbt neues Koffärr!«
    Auch zu Bergner kamen die Nachfolger. Er stand im Stall und legte die Handgriffe an Wagen und Pferde. Er sah dem bulligen Russen entgegen, der mit gesenktem Kopf, wie ein angreifender Stier, auf ihn zukam.
    »Zeit um!« sagte er grollend.
    »Noch zwei Minuten.«
    »Semjows Uhr geht gut!«
    »Sie geht zwei Minuten
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