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Der Himmel über Kasakstan

Der Himmel über Kasakstan

Titel: Der Himmel über Kasakstan
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vor.«
    »Eine gute Uhr. Wem die Uhr vorgeht, wird immer der erste sein! Wir Russen sind die ersten! Die Uhren im Westen gehen immer nach.«
    Rudolf Bergner hob Vera Petrowna auf den Wagen und steckte sie zwischen die Betten und einige Strohballen. Erna-Svetlana und Mischa, der Krüppel, saßen bereits zwischen Tischen und Stühlen und hatten die kleinen Gesichter tief in die Fuchspelze gesteckt. Nur ihre hellen Augen schauten aus dem Gewirr von rotgelben Haaren hervor und musterten den fremden Mann, der mit dem Vater sprach.
    Rudolf Bergner musterte den bulligen Russen verwundert. So spricht kein Bauer, dachte er.
    »Wer sind Sie?« fragte er.
    »Iwan Plojenski.«
    »Aber kein Bauer!«
    »Ich bin Arzt.«
    »Arzt? Was wollen Sie dann hier?«
    Iwan Plojenski hob die breiten Schultern. »Es gibt in Rußland einen Ausspruch, Genosse Bergner – ich las Ihren Namen draußen an der Tür –, den Sie als Deutscher eigentlich begreifen müßten: Denke nie über einen Befehl nach! Ein Befehl ist in Rußland das, was einmal im Mittelalter das Wort Gottes war. Er ist ein Dogma.« Er knöpfte sich die dicke Steppjacke auf. Darunter trug er einen dicken, aus ungebleichter Schafswolle gestrickten Pullover. »Ich habe von Moskau aus den Befehl, hier in Nowy Wjassna eine Sanitätsstation aufzubauen. In Ihrem Hause, Herr Bergner. Es soll sich hier alles verändern. Das ganze Gebiet soll eine Musterkolchose werden, mit Landarbeiterbrigaden, Traktoren-Zentralhöfen, einem Arbeitslager für politisch Unzuverlässige … es soll alles ausgetilgt werden, was in diesem Dorfe typisch deutsch war … zum Beispiel die Namen an den Haustüren.« Iwan Plojenski hob wieder die Schultern. »Nun bin ich hier, Herr Bergner. Mit Frau und drei kleinen Kindern. Von Kiew hinaus in die Pripjet-Sümpfe. Es ist eben ein Befehl –«
    Um die Ecke der Scheune bog in schnellem Lauf Igor Igorowitsch. Er schwenkte in heller Wut seine Uhr durch die eisige Luft.
    »Zehn Minuten drüber!« brüllte er hysterisch. »Zehn Minuten! Warum treten Sie den dreckigen Deutschen nicht in den Hintern, Genosse Plojenski?!«
    »Ich habe Rheuma in den Beinen«, sagte Dr. Plojenski und wandte sich ab. Semjow schluckte, aber er entgegnete nichts. Haßerfüllt sah er Bergner an.
    »Fertig?!«
    »Ja.«
    Semjow musterte den großen Leiterwagen und die beiden Pferde. »Auch bis oben beladen mit Plunder«, schrie er. »Seid ihr Deutschen alle Idioten? Nehmt Heu und Stroh mit, Kapusta und Knollen! Womit wollt ihr das Vieh füttern?«
    »Füttern?« Bergner ahnte etwas Schreckliches. »Bis Shitomir brauchen wir drei Tage! Dafür reicht es!«
    Über das breite Gesicht Igor Igorowitschs zog ein Leuchten.
    »Wir werden drei Wochen brauchen, Genosse Bergner. Wir ziehen erst nach Süden und nehmen die anderen Dörfer mit. Alle Deutschen sollen gemeinsam in Shitomir einziehen.«
    »Das ist ein Verbrechen!« schrie Bergner entsetzt. »Das ist Mord!«
    »Es ist Befehl aus Moskau«, sagte Semjow gemütlich und ging.
    *
    Auch drei Wochen gehen vorüber.
    Nach vier Tagen mußten die ersten Kühe geschlachtet werden. Sie wurden zu Gefrierfleisch. Die Kälte ließ alles erstarren.
    In den anderen deutschen Dörfern war es ähnlich wie in Nowy Wjassna. Die Bauern warteten schon auf den Transport … die Dorfsowjets hatten präzise gearbeitet, es gab keine Aufenthalte mehr wie in Nowy Wjassna.
    Semjow strahlte. Seine Organisation! Auf sie würde sogar Moskau aufmerksam werden. In Shitomir war der Posten des Parteisekretärs noch unbesetzt. Der bisherige Sekretär war nach Sibirien in ein Bleibergwerk abtransportiert worden. Keiner wußte, warum. Aber wenn Moskau befahl –
    Rudolf Bergner hatte eingesehen, daß es wichtiger war, das Leben zu retten als den Hausrat. Er warf alles vom Wagen, was nicht unbedingt notwendig war. Vera Petrowna weinte zwar, aber Heu und Kapusta geben die Garantie des Weiterkommens und Überlebens. Und Überleben war das einzige, was ihnen geblieben war von Wünschen und Hoffnungen.
    In Shitomir kamen sie zusammen … viertausend Wolhynien-Deutsche. Der erste Transport ins ›Reich‹, wie es der ›Völkische Beobachter‹ nannte. Die Wiederkehr der Deutschen, die seit Generationen als Minderheit geknechtet worden waren und deren Sehnsucht Deutschland war.
    Auf dem Güterbahnhof von Shitomir wurden sie verladen … in Viehwagen, die nicht ausgekehrt oder gewaschen waren, in denen noch der Rinder- und Schweinekot lag, die nach Bullen und Ziegen stanken und deren Stroh auf
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