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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter
Autoren: Oliver Pötzsch
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in der Stadt gekümmert und ihn, wie es Aufgabe des Scharfrichters war, vor den Mauern abgeladen?
    Vor allem aber dachte Jakob Kuisl an seine kranke Frau Anna-Maria. Ob das Fieber sie immer noch schüttelte? Er erinnerte sich, dass ihr Husten bei seiner Abreise schon ein wenig abgeklungen war. Oft war ihm Anna-Maria in den letzten Tagen in den Sinn gekommen. Immer dann, wenn er wieder einmal von Jähzorn und Ungeduld gepackt wurde, hatte er sich gefragt, was sie wohl an seiner statt tun würde. Anna-Maria Kuisl konnte zwar ebenso aufbrausend sein wie ihr Mann, doch in den wichtigen Momenten bewahrte sie einen kühlen Kopf. Auch bei den Hinrichtungen, die Jakob Kuisl oft schlaflose Nächte bereiteten, war sie ihm immer eine Stütze und hielt ihn vom Saufen ab.
    Der Henker beschleunigte seine Schritte. Mittlerweile passierte er die ersten Schuppen und Häuser des Gerberviertels, das sich zwischen dem Lech und der Stadtmauer drängte. Jetzt am frühen Vormittag waren viele der Männer draußen in den Gassen unterwegs, um die stinkenden Lederhäute zum Trocknen auf Stangen und Gerüste zu hängen. Die Frauen standen am Fluss, wuschen die Wäsche und tratschten. Als sie Kuisl sahen, wendeten sie ihren Blick ab und begannen leise zu tuscheln. Der Henker war dieses Verhalten gewöhnt, doch diesmal kam ihm irgendetwas daran eigenartig vor. Fast war es, als ob die Menschen so etwas wie Mitgefühl für ihn zeigten.
    Was zum Teufel …
    Endlich hatte Jakob Kuisl das Henkershaus erreicht. Es stand etwas abseits in der Nähe eines größeren Weihers. Ein Schuppen für den Schinderkarren befand sich daneben, ein hübscher Vorgarten mit Blumen, Obstbäumen und Gemüse breitete sich vor der Eingangstür aus.
    Es war der Garten, an dem Jakob Kuisl merkte, dass etwas nicht stimmen konnte.
    Seine Frau pflegte ihn täglich, doch heute sah der Garten aus, als wäre schon länger kein Unkraut mehr gejätet worden. Giersch und Ackerwinde wucherten über die Beete, Nacktschnecken krochen über welke, teils braune Salatköpfe. Eines der Rankgitter war in einem der letzten Gewitter umgeweht und seitdem nicht wieder aufgestellt worden.
    »Anna?«, rief der Henker zögerlich. »Ich bin wieder da! Hörst du mich?« Doch aus dem Haus kam keine Antwort.
    Erst nach einer Weile öffnete sich knarrend die Tür. Die Hebamme Martha Stechlin stand im Flur. Als Jakob Kuisl ihr blasses, von Sorgenfalten gezeichnetes Gesicht sah, wusste er sofort Bescheid.
    »Nein!«, brüllte er und rannte auf die Tür zu. »Nein! Sag, dass das nicht wahr ist!«
    »Ich … ich konnte nichts tun«, sagte die Hebamme leise. »Das Fieber war zu stark. Wir haben sie …«
    »NEIN!!!«
    Jakob Kuisl drängte die Stechlin zur Seite und stolperte in die Stube. An dem großen, verwitterten Tisch unter dem Herr­gottswinkel saß mit leeren verweinten Augen seine Familie, zwischen ihnen stand eine große unberührte Schüssel mit dampfendem Mus. Der Henker sah seine beiden jüngeren Kinder Barbara und Georg, dem mittlerweile ein kleiner Flaum gewachsen war; er sah Magdalena und Simon, die Enkel Peter und Paul auf dem Schoß. Die Buben nuckelten am Daumen und waren seltsam still.
    Alle waren sie da, nur seine Frau Anna-Maria nicht. Der abgewetzte Schemel, auf dem sie immer gesessen hatte, wo sie geschimpft, liebkost, Strümpfe gestopft und Lieder gesungen hatte, er war leer.
    Ein Stich fuhr Jakob Kuisl ins Herz, so heftig, als würde ein Söldner ihn mit einer Klinge durchbohren.
    Das darf nicht sein! O großer Gott, wenn es dich wirklich gibt, sag, dass das nicht wahr ist! Das ist ein böser Streich! Ich bete zu dir, und du schlägst mir ins Gesicht …
    »Es ist erst gestern geschehen«, flüsterte Magdalena tonlos. »Das Fieber hat in Schongau vielen das Leben gekostet. Sie war eine der Letzten.«
    »Ich … ich hätte dableiben sollen! Ich hätte ihr helfen können.« Die breiten Schultern des Henkers sackten nach unten, plötzlich sah er sehr alt aus.
    »Schmarren, Vater!« Magdalena schüttelte heftig den Kopf . »Meinst du, die Stechlin hätte nicht alles versucht? Gott gibt uns das Leben, und er nimmt es auch wieder. Der Tod war einfach zu stark, wir können nur beten und …«
    Sie brach ab, Tränen liefen ihr über das Gesicht. Simon drückte ihr die Hand.
    »Wollt Ihr sie sehen?«, fragte der Medicus seinen Schwie­gervater vorsichtig. »Sie liegt drüben in der Kammer.«
    Kuisl nickte, dann wandte er sich schweigend ab und betrat den Nebenraum. Keiner folgte
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