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Der Hexer und die Henkerstochter

Der Hexer und die Henkerstochter

Titel: Der Hexer und die Henkerstochter
Autoren: Oliver Pötzsch
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ihm.
    Anna-Maria Kuisl lag mit geschlossenen Augen in dem breiten Ehebett, ganz so, als würde sie schlafen. Noch immer waren ihre Haare schwarz und voll, mit nur wenigen grauen Strähnen durchzogen. Jemand hatte sie gekämmt und ihr ein weißes spitzenbesetztes Nachthemd angezogen. Ein paar Fliegen surrten durch den Raum und setzten sich auf ihr wächsernes Gesicht. Kuisl scheuchte sie weg, dann kniete er sich neben seine Frau und fasste ihre Hand.
    »Meine Anna«, murmelte er. Sanft strich er ihr über die Wangen. »Was soll ich denn jetzt machen, wo du nicht mehr da bist? Wer wird mich schimpfen, wenn ich mal wieder zu viel gesoffen hab? Wer betet für mich in der Kirche? Wer …«
    Er brach ab und biss sich auf die Lippen. Über dreißig Jahre waren sie ein Paar gewesen. Als Söldner hatte er Anna von einem Feldzug mit nach Hause gebracht, gemein­sam waren sie alt geworden. Tränen rannen ihm über das ver narbte Gesicht, es waren die ersten seit vielen, vielen Jahren.
    Erneut musste er daran denken, was die verrückte Alte im Andechser Kiental vor einer Woche zu ihm gesagt hatte.
    Tu Buße, Henker! Schon bald wird dich das Unglück wie ein Blitz treffen!
    War dies das Unglück, das ihn treffen sollte? War das die Strafe für all die Toten, die seinen Weg bislang gepflastert hatten? Konnte Gott so grausam sein?
    Plötzlich ertönte von der Stube her ein leises Geräusch. Magdalena war hinter ihn getreten und legte ihm nun eine Hand auf die Schulter.
    »Ich … muss dir etwas sagen«, begann sie zögerlich. »Ich weiß nicht, ob dies der richtige Augenblick ist. Aber ich bin sicher, die Mutter hätte es so gewollt.«
    Jakob Kuisl schwieg, nur der aufgerichtete Kopf verriet, dass er zuhörte.
    »Es ist nur …«, fuhr Magdalena fort. »Also … Der Peter und der Paul werden sich die kleine Kammer oben bald mit jemandem teilen müssen. Ich … ich bekomme nämlich noch ein Kind.«
    Noch immer sagte der Henker kein Wort, aber Magdalena spürte, wie plötzlich ein Zittern durch seinen mächtigen Körper ging.
    »Die Stechlin hat mich untersucht, und sie ist sich ganz sicher«, erzählte sie lächelnd. »Ich hab mich doch vor ein paar Tagen so unwohl gefühlt, weißt du noch? Und diese ständige Übelkeit, jetzt wissen wir endlich, was es damit auf sich hatte.«
    Jetzt, da es endlich raus war, flossen die Wörter aus ihr heraus wie ein warmer Sommerregen.
    »Außerdem glaubt die Stechlin, dass es diesmal ein Mädchen wird«, fuhr sie fort. »Was meinst du? Hättest du gern eine kleine Enkelin? Eine kleine Henkerstochter?«
    Kuisl schnaubte, und Magdalena kam es so vor, als wüsste er nicht, ob er lachen oder weinen sollte.
    »Als wenn eine von deiner Sorte nicht genug wär«, brummte er schließlich.
    Der Henker drückte die Hand seiner Frau ein letztes Mal, dann drehte er sich zu Magdalena um und umarmte sie so fest, dass sie kaum noch atmen konnte.



Dies ist das vierte Buch aus der Henkerstochter-Saga und das erste, das in meiner Heimat spielt. Vielleicht ist es mir deshalb besonders ans Herz gewachsen. Ich habe meine Kindheit und Jugend an den bayerischen Seen südwestlich von München verbracht – am Wörthsee, Pilsensee, am Weßlinger See und eben auch am Ammersee. Das Kloster Andechs war für uns immer ein Orientierungspunkt, eine Nadel, die aus der bergigen Landschaft herausstach und die Mitte unserer kleinen Welt bildete.
    In den Wäldern und auf den Uferwegen dieser Gegend sind viele meiner ersten Geschichten entstanden, und oft habe ich die alten Sagen und Legenden meiner Heimat dar­in verwoben. Von dem Weiler Ellwang heißt es zum Beispiel, er sei so versteckt gewesen, dass er als einziges Dorf im Dreißigjährigen Krieg verschont wurde – die Schweden hatten den Ort einfach nicht gefunden. Und das verlassene Ramsee, dessen Ruinen in den Wäldern unterhalb von Andechs liegen, diente mir als Vorlage für das von Söldnern zerstörte Dorf in meinem dritten Henkerstochter-Roman.
    Ich weiß gar nicht, wie oft ich in meinem Leben schon zum Kloster hinaufgegangen bin. Zuerst als Kind zum Minigolfspielen, als Jugendlicher dann zum Saufen, als Erwachsener schließlich zum Beten und zur inneren Einkehr. Das Letztere ist dort oben nicht immer einfach, denn die Touristenströme sind vor allem an den Wochenenden gewaltig. Es riecht nach Schweinsbraten, Biermaische und Steckerlfisch, die eigenen Kinder zerren an den Händen und wollen ihr versprochenes Eis, und immer wieder taumeln einem grölende Amerikaner
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