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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Autoren: Christopher Hitchens
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eines seiner geschliffeneren Werke erachtete, auf den Altar von Notre-Dame, auf dass Gott höchstselbst seine Arbeit in Augenschein nehmen und dem Doctor Angelicus seine geschätzte Meinung mitteilen könne. Hier befand sich Thomas von Aquin, nebenbei bemerkt, auf dem gleichen Holzweg wie die Nonnen, die im Kloster beim Bade ein Leintuch vorhängten: Sie glaubten, Gottes Blick werde durch dieses bescheidene Hilfsmittel vom unverhüllten weiblichen Körper abgelenkt, und vergaßen, dass er doch dank seiner Allwissenheit und Allgegenwart überall jederzeit alles »sehen« konnte und dass er somit gewiss auch durch die Wände und Decken des Nonnenklosters »sah«, hinter denen er dann unvermittelt das Leintuch vorfand. Vielleicht sollten die Nonnen ja auch eigentlich davon abgehalten werden, ihren eigenen Körper oder, besser gesagt, den der anderen näher zu betrachten.
    Wie dem auch sei: Als Thomas von Aquin später feststellte, dass Gott seine Abhandlung tatsächlich wohlwollend zur Kenntnis genommen hatte – eine Auszeichnung, die er als einziger Autor für sich reklamierte –, sahen ihn die anderen Mönche und Novizen in der Kathedrale glückselig in der Luft schweben. Dafür gibt es natürlich Augenzeugen.
    An einem Frühlingstag im Jahre 2006 begab sich der iranische Präsident Ahmadinedschad in Begleitung seines Kabinetts zu einem Brunnen, der zwischen der Hauptstadt Teheran und der heiligen Stadt Kum liegt. Es soll sich dabei um die Zisterne handeln, in der sich im Jahr 873 der Zwölfte Imam im Alter von fünf Jahren versteckt hat. Der »Verborgene« Imam ward seither nicht mehr gesehen, wird aber eines Tages mit seiner lang erwarteten und erhofften Wiederkehr die Welt erstaunen und erlösen. Bei seiner Ankunft nahm Ahmadinedschad eine Papierrolle zur Hand und warf sie in den Brunnen, um den Verborgenen Imam hinsichtlich der Fortschritte des Iran in Sachen Atomspaltung und Urananreicherung auf den neusten Stand zu bringen. Man sollte doch annehmen, dass sich der Imam unabhängig von seinem momentanen Aufenthaltsort über solcherlei Entwicklungen informieren könnte, doch irgendwie musste es dieser Brunnen sein, der als eine Art Briefkasten diente. Präsident Ahmadinedschad war, dies sei hinzugefügt, kurz zuvor von den Vereinten Nationen in New York zurückgekehrt. Dort hatte er eine Rede gehalten, die viele Iraner in einer Liveübertragung gesehen hatten und über die im Radio und im Fernsehen ausgiebig berichtet worden war. Bei seiner Rückkehr in den Iran teilte er seinen Anhängern mit, er sei während seiner gesamten Rede in helles grünes Licht getaucht gewesen – Grün ist die Lieblingsfarbe des Islam –, und aufgrund dieses göttlichen Lichtes habe in der Generalversammlung absolute Stille geherrscht. Obwohl es sich um ein sehr persönliches Phänomen handelte – er war offenbar der Einzige gewesen, dem es auffiel –, sah der Präsident darin ein weiteres Zeichen für die nahende Rückkehr des Zwölften Imams, ja eine Bestätigung seines ehrgeizigen Zieles, die Islamische Republik Iran, so tief sie auch in Armut, Repression, Stagnation und Korruption abgerutscht war, zu einer Atommacht zu machen. Wie Thomas von Aquin aber ging er davon aus, dass der Zwölfte, der Verborgene Imam das Dokument nur lesen konnte, wenn er es ihm direkt vorlegte.
    Ich habe schon viele schiitische Zeremonien und Prozessionen erlebt und war daher nicht sonderlich überrascht, als ich erfuhr, dass sie in Form und Liturgie dem Katholizismus entlehnt sind. Zwölf Imame, einer von ihnen derzeit im Verborgenen auf seine Wiederkehr oder sein Wiedererwachen wartend. Ein wahnsinniger Märtyrerkult vor allem um den Tod des dritten Imams Hussein, der in der bitteren Schlacht auf der trostlosen Ebene von Kerbela verlassen und verraten ums Leben kam. Prozessionen von Flagellanten, die sich in tiefster Trauer und Schuldbewusstsein darüber ergehen, wie ihr einstiger Führer geopfert und im Stich gelassen wurde. Der masochistische schiitische Feiertag Aschura weist große Ähnlichkeit mit der Semana Santa auf, der »heiligen Woche«, in der von Männern in Kapuzenmänteln Kreuze und Fackeln durch Spaniens Straßen getragen werden. Wieder stellt sich heraus, dass die monotheistischen Religionen plagiierte Plagiate unverbürgter Gerüchte sind, die sich zurückbeziehen auf ein paar wenige frei erfundene Pseudoereignisse.
    Das bedeutet aber auch, dass, während ich diese Worte schreibe, eine Spielart der Inquisition drauf und dran ist,
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