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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen
Autoren: Sam Bowring
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standen an manchen Stellen so dicht, dass sie eine Mauer bildeten. Umgestürzte Bäume lagen kreuz und quer dazwischen, wurden von nachwachsenden Stämmen wieder hochgedrückt, wenn sie denn je genug Platz fanden, auf ganzer Länge den Grund zu erreichen.
    Rostigan duckte sich unter einem schrägen Stamm hindurch. Tarzi folgte ihm und bemühte sich, so leise zu sein wie er. Sie stellte sich recht geschickt an, musste er zugeben, und war so leichtfüßig wie in den Gasthäusern, wo sie von Tisch zu Tisch sprang, wenn sie ihre Geschichten vortrug. Trotzdem hörte er gelegentlich, wie ihre Stiefel über Rinde scharrten oder Laub unter ihren Füßen raschelte. Es war gefährlich. Falls es sich bei der Frau, die sie verfolgten, tatsächlich um die Diebin handelte, würde er gern vermeiden, sich durch solche Geräusche anzukündigen.
    Am Bach machten die Bäume ein Stück weit felsigem Grund Platz. Rostigan trat vorsichtig auf die Lichtung, aber dort war niemand zu sehen. Stattdessen erwartete ihn auf der anderen Seite ein eigenartiger Anblick. In gerader Linie führte ein Gang zwischen den Bäumen hindurch, der zu regelmäßig war, um natürlichen Ursprungs zu sein. Die Erde war ein wenig aufgewühlt und wies größere und kleinere Krater auf, wo die Wurzeln gestohlener Bäume verschwunden waren. Über die Lichtung hallte Rostigan ein Wispern entgegen.
    In hölzener Reihe geht es fort,
ausgerichtet von Süd nach Nord.
    »Sie hat sich einen Weg gebahnt«, sagte er.
    Tarzi biss sich auf die Unterlippe. »Zumindest können wir ihr dann leichter folgen.«
    »Nur ich.«
    »Wie?«
    »Ja, kleine Drossel, Zeit für dich, ein wenig auszuruhen.«
    »Wie soll ich später von diesen Taten berichten, wenn ich nicht ihr Zeuge wurde?«
    »Und wenn du aus der Welt gereimt wirst?«
    »Ich war doch völlig lautlos!«
    »Du hast dich nicht schlecht gehalten, doch nun wird es wirklich gefährlich. Falls die Diebin irgendwo vor uns ist, kann es gut sein, dass ich nicht zurückkehre. Und dein Leben möchte ich nicht auch noch riskieren. Es heißt, die Diebin liebe die Schönheit, deshalb wärest du die Erste, die in die Seiten ihres Buches eingetragen würde. Man kann sie erwischen, wenn man sie überrascht. Und das gelingt mir ohne dich am besten.«
    Tarzi seufzte und ließ ihren Rucksack auf den Boden sinken. Ihrer Miene nach war sie hin- und hergerissen zwischen Verärgerung und Freude über die Schmeichelei.
    Rostigan ging zum Anfang des Pfads. Dort fand er frische, winzig kleine Fußabdrücke in der Erde. Er sah zu Tarzi zurück. Sie hatte nicht sehr laut protestiert, und vielleicht würde sie versuchen, ihm zu folgen. Oder sie würde lieber zurückbleiben, in Sicherheit, und eine mögliche Auseinandersetzung aus ihrem Versteck beobachten.
    »Tarzi«, sagte er.
    »Hm?«
    »In deinen Geschichten gehorchen diejenigen nie, denen man sagt, sie sollten zurückbleiben.«
    Sie grinste. »Ja, und?«
    »Grins nicht so«, fauchte er sie an. »Die Diebin ist überhaupt nicht lustig. Wenn sie zurückgekehrt ist, könnte das ein neues Zeitalter des Chaos nach sich ziehen. Vielleicht gibt es eine Chance, eine winzige Chance, sie aufzuhalten, ehe das geschieht. Ist es wert, einen solchen Erfolg zu gefährden, damit du hinterher Betrunkenen eine Geschichte erzählen kannst?«
    Tarzi starrte ihn kalt an.
    »Versprich es mir. Versprich mir , dass du mir nicht folgst.«
    Sie ließ sich auf einen Baumstamm plumpsen.
    »Tarzi?«
    »Versprochen!«
    »Ehrlich versprochen? Du wirst hier nicht eine Stunde lang sitzen, bis dir langweilig wird, und mir dann nachschleichen?«
    »Wind und Feuer! Ich verspreche es. Und du bist unausstehlich.«
    »Gut.« Er drehte sich um.
    »Weshalb glaubst du überhaupt, diese winzige Chance zu haben? Wenn es tatsächlich die Diebin ist, was eigentlich gar nicht sein kann.«
    »Ich habe meine Gründe.« Rostigan holte tief Luft und machte sich auf den Weg.
    Er ging schneller als zuvor, denn er vermutete die Diebin am Ende der Passage, und das war noch nicht in Sicht. Insekten und Würmer hatten sich Höhlen in der Erde geschaffen, aus der die Wurzeln verschwunden waren. Der Weg führte ohne Biegung geradeaus, und mit schwindendem Tageslicht wurde es im Wald dunkler und dunk-
ler.
    Wie weit bist du gegangen?, fragte er sich. Wie weit bist du geflohen?
    Als er mit dem Fuß einen Käfer zertrat, zuckte er zusammen.
    Schließlich entdeckte er vor sich das Flackern eines Feuers. Er wurde langsamer und trat in den Schatten, wo das Licht
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