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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen
Autoren: Sam Bowring
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erscheinen. »Ich habe Bekannte in Silberstein«, murmelte sie. »Was könnte dieses Verschwinden verursacht haben?«
    Sie wandte sich Rostigan zu, der ihren Blick traurig erwiderte.
    »Die Diebin?«, fragte sie ungläubig. »Das kann doch nicht dein Ernst sein?«
    »Die Stimme«, sagte Rostigan. »Davon hast du gehört, oder? Das Echo der Diebin: in der Luft eine Spur dessen, was sie getan hat. Dass sie gestohlen hat.«
    Tarzis Zweifel blieben bestehen. Was ihn nicht überraschte. Er wusste selbst nicht genau, warum er sie überzeugen wollte. Vielleicht wollte er sich selbst überzeugen.
    »Es gibt viele Fadenwirker«, sagte Tarzi, »die eine Stimme aus dem Nichts erzeugen können. Beim Ende der Gezeiten, ich kenne selbst den einen oder anderen Bauchredner.«
    »Können diese Bauchredner auch ganze Städte verschwinden lassen?«, fragte Rostigan und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen
    Und, fügte er bei sich hinzu, auf dem Strand hast du es nicht bemerkt, aber die Sonne hat geflackert … und das wurde seit den Tagen des Herrn der Tränen und der Wächter nicht mehr gesehen.
    Sollte er es ihr sagen? Bislang hatte er darüber geschwiegen, um sie nicht zu beunruhigen, aber jetzt wollte er sie von der Rückkehr der Diebin überzeugen, und das offensichtlich aufgrund einer bloßen Ahnung. Sein Handeln barg Widersprüche. Wenn sie ihm glauben sollte, musste er ihr sagen, was er gesehen hatte. Bestimmt passte das Verschwinden des Tageslichts in die Geschichten, die sie kannte, in die Legenden, die in ganz Aorn umgingen …
    Die Gäste im Wirtshaus füllten ihre Gläser nach und lehnten sich zurück, als Tarzi auf die Fliesen vor dem Feuer trat.
    »Einst«, sagte sie, »lebte ein mächtiger Fadenwirker, den man Regret, den Herrn der Tränen nannte. Er herrschte über das Tal des Friedens. Zu jener Zeit war es noch ein einladender Ort mit guten Menschen, wie ihr es seid. Der Herr der Tränen war eine schillernde Gestalt, dünn wie eine Bohnenstange, die gern auffällige Roben trug und sich Strähnen ins wilde Haar färbte. Seine strahlende Erscheinung verbarg lange das düstere Innere, das jedoch im Laufe der Zeit immer stärker hervortrat. Mit seiner unheimlichen Begabung konnte er Regenbogen heraufbeschwören oder – mit gleicher Leichtigkeit – Menschen die Knochen aus dem Leib zaubern.«
    Sie streckte die Hand nach einem der Bauern aus und griff in die Luft. Der Mann zuckte zusammen, während die anderen lachten.
    »Doch das Schlimmste war, dass der Herr der Tränen lernte, die Große Magie selbst zu beeinflussen! Bis heute weiß niemand, wie ihm das gelungen ist. Nicht nur die Muster, die aus ihr entstehen und mit denen sich alle Fadenwirker auskennen, Bäume und Kühe und Regenbogen und Knochen, sondern das innerste Gewebe der Existenz, aus dem alle Dinge hervorgehen. Er machte sich an die Arbeit, die Welt nach seinen verdrehten, aus Delirium und Albträumen geborenen Ansichten zu gestalten. Dabei begann er mit seinem eigenen Reich, beraubte seine einst glücklichen Untertanen jeglicher Menschlichkeit und verwandelte sie in mitleidlose Wesen, die sich menschlichem Denken und Fühlen nicht mehr verpflichtet fühlten.«
    »Die Entflochtenen«, murmelte jemand, und andere zitterten.
    »Ja, die Entflochtenen. Doch ihre Erschaffung war erst der Anfang. Als der Herr der Tränen die Hand hinter die Welt schob und an Fäden zog, die er dort entdeckte, beschädigte er tiefe und uralte Muster. Stellt es euch nur vor, meine Freunde – die Große Magie, verändert nach den Vorstellungen eines Wahnsinnigen! Alles, was die Magie hervorgebracht hatte, war betroffen, so wie bei einem Wald, der auf giftigem Boden wächst, und die Auswirkungen waren in ganz Aorn zu spüren. Kinder kamen verkrüppelt zur Welt, Pflanzen, die niemals blühen, standen plötzlich in falscher Blüte, und manchmal verschwand die Sonne tagsüber plötzlich wie ein Auge hinter seinem Lid, wenn es geschlossen wird. Der Herr der Tränen war ebenso selbstsüchtig wie wahnsinnig und kümmerte sich nicht darum, dass sein Eingreifen die Natur der Dinge bedrohte – ja, er genoss es geradezu. Heere zogen gegen ihn zu Felde, um ihn aufzuhalten, doch der Eingang zum Tal war eng und wurde von den Entflochtenen gut verteidigt. Sie verfügten über unnatürliche Kraft und waren nicht bereit zu sterben. So kämpften sie, als würden sie ihren Herrn lieben, auch wenn sie gar nicht mehr der Liebe fähig zu sein schienen. Die Soldaten von Aorn fielen zu Tausenden, und
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