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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen
Autoren: Sam Bowring
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reden wir nicht zuerst?«, sagte sie. »Ich bin gerade erst …«
    Er ließ das Schwert zwischen ihren Augen niedergehen und trieb ihr Stücke der Schädeldecke bis in den Hals.
    Rostigan schleppte die erschlagene Diebin durch den Wald zurück. Sie regte sich nicht, obwohl noch Leben in ihr geblieben war. Wenn er sie sich selbst überließe, würde sie am Ende wieder genesen. Wächter waren für beinahe unsterblich gehalten worden.
    Als er zu ihrem Lager zurückkam, brannte das Feuer noch. Es hatte seine Arbeit einmal getan und würde es gewiss wieder tun.
    »Tarzi!«, brüllte er.
    Sie musste drei Meilen oder weiter entfernt sein, doch bestimmt würde sie ihn in der nächtlichen Stille hören. Ohne Frage würde sie die Diebin sehen wollen, den zerfetzten Mund, der alle Zweifel ausräumte. Dann hätte sie etwas, um ihre Geschichten auszuschmücken.
    »Tarzi!«, rief er wieder. »Jetzt ist es sicher!«
    Er lehnte die Diebin an einen Felsen und nahm ihr das Buch und die Feder ab. Auf beiden Seiten des gespaltenen Schädels wurden die Augen plötzlich wach. Sie blinzelten ihn voller Hass an. Gurgelnd versuchte die Diebin etwas durch die zerfetzten Lippen zu sagen.
    »Geduld«, erwiderte er.
    Er wandte sich ab und sah sich das Buch an. Ihre Schrift war spinnenartig, aber lesbar. Es gab einen Vers über einen Wächter auf seinem Posten, dem folgte einer über Silberstein, dann einer, der den Weg durch die Bäume geebnet hatte, und schließlich einer über den Geschmack der Äpfel. Die anderen Seiten waren leer.
    Er hockte sich vor sie hin. »Was hast du noch in dieser Welt zu erledigen, Diebin? Warum bist du zurückgekehrt? Wie?«
    Sie konnte nicht antworten.
    Nach einer Weile hörte er Tarzi und zeigte sich ihr am Ende des Pfads.
    »Rostigan?«, rief sie nervös.
    »Ja, ich bin es«, antwortete er. »Komm und schau. Du sollst nicht ohne Stoff für deine Lieder bleiben. Sieh dir die Diebin an, solange du noch kannst.«
    Tarzi betrat die Lichtung. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, erbleichte sie.
    »Das ist sie?«
    »Ja.«
    »Die Diebin? Nicht irgendein … ich weiß nicht … Gaukler, der sie nachahmt?«
    »Wenn es so wäre, könnte er ihr Aussehen perfekt imitieren. Wovon allerdings jetzt nicht mehr so viel zu sehen ist.«
    Sie packte ihn am Arm. »Die Diebin blickt mich an.«
    »Keine Angst, sie kann dir nichts tun. Ich dachte, du wolltest sie sehen, ehe ich sie den Flammen übergebe.«
    »Aber wie hast du sie überwunden?«
    »Ich hatte Glück. Ich konnte mich anschleichen und zuschlagen, ehe sie mich bemerkt hat.«
    Tarzi starrte sie weiter an. »Ist sie es wirklich? Dieser Mund …« Sie brachte den Satz nicht zu Ende und wandte den Blick ab.
    Rostigan fühlte sich wie ein Hund, der einen sterbenden Vogel zu seinem Herrchen schleppt. »Genug?«, fragte er.
    »Genug.«
    »Sehr gut.«
    Während die Augen der Diebin protestierend aufblitzten, packte er sie unter den Armen und schleppte sie zum Feuer. Das Gurgeln in ihrer Kehle wurde lauter, und sie zuckte krampfhaft mit den Fingern. Rostigan sammelte trockenes Reisig und stapelte es um sie herum.
    »Es muss schrecklich sein«, sagte er nüchtern, während er arbeitete, »das Gleiche noch einmal durchmachen zu müssen.«
    Das Feuer qualmte schwarz, und nach kurzer Zeit rührte sie sich nicht mehr. Fett brutzelte auf knackenden Knochen.
    »Gehen wir fort von hier«, flüsterte Tarzi.
    Rostigan beachtete sie nicht, denn er wartete auf etwas, das sie nicht sehen konnte. Er wollte sichergehen, dass die Diebin ein für alle Mal tot war.
    Da sie kein Fleisch mehr hatten, in dem sie sich halten konnten, lösten sich die Fäden ihrer Strukturen langsam auf und verloren ihre Gestalt. Bald schwankten sie unbeständig hin und her wie der Rauch, der zwischen ihnen tanzte, und verschwanden schnell. Rostigan ließ seinen Blick tiefer dringen und jagte ihnen nach. Kurz erwachten sie wieder zum Leben … doch wie am Strand gab es eine Tiefe, durch die er nicht hindurchsehen konnte. Die Fäden der Diebin verschwanden hinter dem Schleier der Welt im Spiel und waren fort. Nur ein Bündel blieb, wie ein ätherisches Büschel wedelnden blauen Seegrases, löste sich vom Rest und floh über einen schmalen Pfad zwischen den Schichten der Existenz. Rostigan verzog das Gesicht. Anscheinend konnten diese Fäden den Schleier nicht durchdringen. So etwas hatte er befürchtet, aber nicht erwartet. Er war sicher, dass diese Fäden der Großen Magie gestohlen worden und vom Herrn der Tränen auf die
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