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Der Herr der Tränen

Der Herr der Tränen

Titel: Der Herr der Tränen
Autoren: Sam Bowring
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des aufgehenden Mondes nicht hingelangte. Leise näherte er sich dem Ende der Passage, die auf eine kleine Lichtung mündete. Kurz vorher blieb er stehen und spähte durch die Bäume nach vorn. Auf einem Felsen vor den Flammen saß eine einsame Gestalt.
    Sie ähnelte sehr den Bildern von ihr. Sie war klein und schlank und trug einen roten Mantel, unter dem sie in weitere Schichten Kleidung gehüllt war, dazu Handschuhe und Hose. Die Stiefel reichten bis zu den Knien, das Hemd bedeckte die flache Brust. Das Tuch hatte sie auf ihr Knie gelegt, doch der Hut mit der breiten Krempe verdeckte ihr Gesicht. In der rechten Hand hielt sie die Feder, die sich dem Buch in ihrer Linken näherte und dann rasch über die Seite flog. Fäden strömten vor ihr aus der Luft herbei, aber sie waren nur in dem Moment zu erkennen, in dem sie eintrafen. Sie lachte schmatzend, und dann schwebten ihre Geisterwörter heran.
    Wie süß und frisch ein Apfel schmeckt,
von Stund an niemand mehr entdeckt.
    Im Dunkeln wurde Rostigan kalt ums Herz. Hatte sie gerade das getan, was er vermutete?
    »Ob dir das gefällt, Aorn?«, murmelte sie vor sich hin. »Diese Kostbarkeit ist so schlicht, und vermutlich habt ihr gar nicht gewusst, was ihr daran hattet. Doch jetzt, da sie fort, fort, fort ist, werdet ihr es merken …«
    Auf einem Ast über ihr rief ein Nachtvogel. Sie blickte auf, und Rostigan sah glitzernde Augen und einen Mund, der nicht zu verkennen war. Von den Lippen fehlten einige Stücke, und abgerissene Fetzen hingen daran herab wie zerschlissene Vorhänge und gaben den Blick auf gelbe Zähne frei.
    Als der Vogel die Flügel streckte, setzte sie die Feder auf einer neuen Seite an.
    »Welch unnütze Zerstörung«, sagte Rostigan.
    Sie zuckte zusammen, und ihr Blick fuhr in seine Richtung. Die Feder schwebte weiterhin über dem Papier.
    »Wer ist da?«, zischte sie durch die klirrenden Lippen.
    »Brauchst du wirklich einen Vogel in deiner Sammlung, obwohl du dir heute schon eine ganze Stadt geholt hast, Diebin?«
    Sie lachte. »Ich dachte, nach so langer Zeit hätte man mich vergessen, aber da habe ich mich wohl unterschätzt.«
    »Wer sonst würde Silberstein auslöschen?«
    »Ja, das war ich – und obwohl du das weißt, schleichst du dich an mein Feuer und wagst es, mich anzusprechen. Die meisten würden doch die Flucht ergreifen, oder? Glaubst du, dort im Schatten seist du sicher?«
    »Wenn du mich nicht sehen kannst, kannst du mich auch nicht beschreiben.«
    Diesmal lachte sie noch lauter. »Vielleicht kennst du die Geschichte der Ritter, die mich ermordet haben? Die hat dich in falscher Sicherheit gewiegt. Glaubst du tatsächlich, man könne nichts über jemanden sagen, der braune Hosen und stumpfe Waffen trägt?«
    »Wie haben sie dich denn sonst getötet?«
    »Wir alle müssen manchmal schlafen. Und Menschen betrachten sich lieber als gewiefte Planer denn als brutale Meuchler, wenn sie eine Frau erschlagen, die sich in ihre Decken gerollt hat.«
    »Warum bist du zurückgekehrt?«, wollte er wissen.
    »Das ist wirklich eigentümlich – ich habe keine Ahnung. Ich bin einfach aufgewacht, als wäre ich nie fort gewesen, stell dir das vor! Ich glaube, es war sogar am gleichen Ort, an dem sie mich umgebracht haben. Allerdings hatte sich die Landschaft ein wenig verändert, deshalb bin ich nicht ganz sicher.«
    »Aorn war ohne dich besser dran und wird ohne dich wieder besser dran sein.«
    »Ach, tatsächlich?« Sie kniff die Augen zusammen, und ihre Feder flog über die Seite.
    Gefährlich fängt er an zu munkeln,
der düstre Kerl im Waldesdunkeln.
    Die Worte krochen Rostigan über die Arme wie Tausendfüßler … und strichen über ihn hinweg. Die Diebin war schockiert. Sie sprang auf und wollte wegrennen.
    Rostigan hatte keine Flucht erwartet. Er setzte ihr nach, doch sein kräftiger Körper wurde im engen Wald zum Hindernis. Sie preschte davon und huschte wie ein roter Blitz zwischen den Bäumen hindurch. Rostigan knirschte mit den Zähnen und beachtete die Kratzer nicht, die ihm die spitzen Äste zufügten, wenn er sie aus dem Weg schlug. Vor ihm fluchte sie, und als er um den nächsten Stamm rannte, hatte sie sich mit dem Mantel in einem Busch verfangen. Sie riss sich los, drehte sich zu ihm um und starrte ihn an. Er hob das Schwert.
    »Warte, das ist nicht gerecht!«, rief sie. Ihre Hand flog in die Höhe, denn sie wollte die Fäden seines Schwertes auflösen, doch mit einem bloßen Gedanken fegte er ihre Bemühungen weg.
    »Warum
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