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Der Herr der Lüfte

Der Herr der Lüfte

Titel: Der Herr der Lüfte
Autoren: Michael Moorcock
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aus den Bullaugen ragten nun die Läufe von General O. T. Shaws rückstoßfreien Kanonen. Die früheren Promenadendecks hatten sich in Geschützdecks verwandelt. Wo einst die Passagiere getanzt hatten, war nun Munition gelagert. Falls man uns entdeckte, würden wir gut zu parieren wissen. Ich dachte zurück an den dummen Zusammenstoß mit »Rauhreiter Ronnie« Reagan. Ohne ihn wäre ich an diesem Tag nicht Kommandeur dieses Schiffes gewesen, das zur Ausführung eines tollkühnen Auftrages auslief, dessen Natur ich nicht einmal erraten konnte. Es kam mir vor, als sei seit meiner Begegnung mit Reagan mehr Zeit vergangen als seit dem Augenblick, da ich von meiner Zeit aus in die Zukunft geschleudert worden war.
    Uljanow stellte sich neben mich, als ich an meinen Instrumenten stand und das Ablegen vom Mast vorbereitete.
    »So nachdenklich, junger Mann?«
    Ich schaute in seine freundlichen, alten Augen. »Ich habe mich gerade gefragt, was einen rechtschaffenen englischen Armeeoffizier über Nacht in einen entschlossenen Revolutionär verwandelt«, sagte ich lächelnd.
    »Das geht vielen so«, antwortete er. »Ich habe es oft miterlebt. Aber man muß ihnen zuerst soviel Ungerechtigkeit vor Augen führen… Keiner will glauben, wie grausam die Welt ist - oder daß die eigene Art grausam ist. Von den Grausamkeiten nichts wissen, heißt, seine Unschuld bewahren, wie? Und wir wollten ja alle gerne unschuldig bleiben! Ein Revolutionär ist ein Mensch, dem es nicht gelingt, seine Unschuld zu bewahren, der sie aber so verzweifelt zurückhaben möchte, daß er sich bemüht, eine Welt zu errichten, wo alle unschuldig sind.«
    »Aber kann es eine solche Welt jemals geben, Wladimir Iljitsch?« Ich seufzte. »Sie beschreiben den Garten Eden, wissen Sie. Ein bekannter Traum - aber als Wirklichkeit? Ich frage mich…«
    »Es gibt eine unendliche Vielzahl möglicher Gesellschaften. In einem unendlichen Universum können alle früher oder später Wirklichkeit werden. Es liegt an der Menschheit, das zur Wirklichkeit zu machen, was sie als Wirklichkeit anstrebt. Der Mensch ist ein Wesen, das fast alles schaffen kann, was es sich wünscht - oder alles vernichten, was es wünscht. Und manchmal versetzt der Mensch sogar mich, der ich doch schon so alt bin, noch in Erstaunen!« Er kicherte.
    Ich lächelte zurück und dachte darüber nach, daß er wirklich erstaunt wäre, wenn er erführe, daß ich in Wirklichkeit älter war als er!
    Es wurde dunkel, und ich holte tief Luft. Unsere einzige Lichtquelle bestand in der Armaturenbeleuchtung. Ich beabsichtigte, das Schiff auf eine Höhe von tausend Metern hochzuziehen und diese Höhe so lange wie möglich zu halten. Der Wind blies ungefähr in Richtung Nordosten und würde uns in die richtige Richtung treiben, wenn wir das Tal ohne Motorkraft verlassen wollten.
    »Leinen los!« befahl ich.
    Unsere Anlegetaue fielen hinab, und wir begannen aufzusteigen. Ich hörte, wie der Wind um unsere Hülle flüsterte. Ich sah, wie die Lichter der Stadt des Sonnenaufgangs unter uns immer kleiner wurden.
    »Dreitausend Fuß, Höhensteuermann!« befahl ich. »Ziehen Sie sie behutsam hoch! 45 Grad Steigungswinkel! Drehen Sie sie backbord zum Wind, Steuermann!« Ich überprüfte die Instrumente. »Halten Sie sie ruhig!«
    Alles schwieg. Dutschke und Una Persson standen am Fenster und schauten hinab. Shaw und Uljanow standen in meiner Nähe und spähten auf die Instrumente, die ihnen so gut wie nichts sagten. Shaw trug einen blauen Baumwollanzug und paffte eine Zigarette. Schräg auf seinem Kopf saß ein Kulihut aus geflochtenen Binsen. An seinem Gürtel hing ein Pistolenhalfter. Nach einer Weile begann er, auf der Brücke hin- und herzulaufen.
    Wir schwebten gemächlich über die Berge. In wenigen Minuten würden wir uns über dem Hauptlager des Feindes und in Reichweite seiner Artillerie befinden. Falls wir gesichtet wurden, könnten sie schnell ein paar Schiffe starten - dann bestand wenig Zweifel am Ausgang unseres Unternehmens. Wir würden mit dem NFB-Projekt vom Himmel herabgepustet werden. Und ich bezweifelte, ob die Stadt des Sonnenaufgangs den Willen besaß, den Kampf viel länger weiterzuführen, wenn Shaw tot wäre.
    Aber schließlich hatten wir das Lager hinter uns gebracht und entspannten uns ein wenig.
    »Können wir jetzt die Motoren anwerfen?« wollte Shaw wissen.
    Ich schüttelte den Kopf. »Noch nicht. Vielleicht in zwanzig Minuten. Vielleicht auch später.«
    »Wir müssen Hiroshima erreichen, ehe es
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