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Der Herr der Lüfte

Der Herr der Lüfte

Titel: Der Herr der Lüfte
Autoren: Michael Moorcock
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schwankende Planke hinabstolperte, unten hinfiel und gerade rechtzeitig wieder auf die Beine kam, um einen kleinen Seesack zu fangen, welchen der Maat ihm vom Schiff herab zuwarf.
    Der Mann war mit einem schmutzigen Leinenanzug bekleidet und trug weder Hut noch Hemd. Er war unrasiert und hatte Eingeborenensandalen an den Füßen. Typen wie ihn hatte ich schon öfter getroffen. Irgendein armer Teufel, den der Osten ruiniert hatte, der eine Schwäche in sich entdeckt hatte, auf die er vielleicht niemals gestoßen wäre, wäre er ruhig zu Hause in England geblieben. Als er sich jedoch aufrichtete, erschreckte mich ein Ausdruck intensiven Leidens in seinen Augen, eine gewisse Würde, die bei diesem Typus keineswegs geläufig war. Er hängte seinen Sack über die Schulter und schlug den Weg in die Stadt ein.
    »Und versuchen Sie nicht, wieder an Bord zu kommen, Mister, sonst werden wir Sie anzeigen!« kreischte der Maat der Maria Carlson hinter ihm her. Der Heruntergekommene schenkte ihm keine Beachtung. Er trottete weiter am Kai entlang und stieß gelegentlich mit den emsig arbeitenden Kulis zusammen.
    Nun erblickte mich der Maat und winkte ungeduldig. »Keine Post! Keine Post!«
    Ich beschloß, ihm zu glauben, und rief: »Wer ist dieser Bursche? Was hat er getan?«
    »Blinder Passagier«, lautete die knappe Antwort.
    Ich fragte mich, warum jemand auf einem Schiff mit dem Ziel Rowe Island als blinder Passagier mitreisen wollte, und drehte mich auf einen Impuls hin um und folgte dem Mann. Aus irgendeinem Grund hielt ich ihn nicht für einen Gestrauchelten, und er hatte meine Neugier angestachelt. Außerdem war meine Langeweile so groß, daß ich jede Ablenkung bereitwillig aufgenommen hätte. Und ich war auch sicher, daß er etwas Besonderes im Blick und in seinem Gebaren hatte und daß er, sofern ich ihn dazu bewegen konnte, sich mir anzuvertrauen, mir eine interessante Geschichte zu erzählen hatte. Vielleicht hatte ich auch Mitleid mit ihm. Doch was auch immer der Grund war, ich beeilte mich, ihn einzuholen und anzusprechen.
    »Nehmen Sie es mir bitte nicht übel«, sagte ich, »aber Sie machen auf mich den Eindruck, als könnten Sie eine anständige Mahlzeit und einen Drink gebrauchen.«
    »Einen Drink?«
    Er wandte mir diese seltsamen, gequälten Augen zu, als hätte er den Leibhaftigen in mir erkannt. »Drink?«
    »Sie wirken ziemlich erschöpft, mein Junge.« Ich konnte den Anblick dieses Gesichts kaum ertragen, so groß war das Leid, das ich darin sah. »Sie kämen besser mit mir mit.«
    Ohne zu zögern ließ er sich von mir die Hafenstraße hinabführen, bis wir an Olmeijers Hotel anlangten. Die indischen Diener in der Hotelhalle waren nicht begeistert, daß ich einen so offensichtlich heruntergekommenen Typ mitbrachte, doch ich geleitete ihn direkt die Treppe hinauf zu meiner Suite und hieß meinen Hausboy, sogleich ein Bad vorzubereiten. In der Zwischenzeit ließ ich meinen Gast im besten Sessel Platz nehmen und fragte ihn, was er trinken wollte.
    Er zuckte die Achseln. »Egal. Vielleicht Rum?«
    Ich goß ihm einen ordentlichen Schuß ein und reichte ihm das Glas. Er leerte es mit ein paar Zügen und nickte zum Dank. Er saß friedfertig mit im Schoß gefalteten Händen im Sessel und starrte auf den Tisch.
    Sein Akzent, wenn er auch nur gedankenverloren und zurückhaltend sprach, war der eines gebildeten Mannes, eines Gentleman, und das stachelte meine Neugier nur noch weiter an.
    »Von wo kommen Sie?« fragte ich ihn. »Singapur?«
    »Von wo?« Er sah mich merkwürdig an und runzelte dann die Stirn. Er murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte, dann trat der Hausboy ein und sagte mir, daß er das Bad vorbereitet hätte.
    »Das Bad ist fertig«, erklärte ich. »Wenn Sie es nehmen wollen, werde ich einen von meinen Anzügen heraussuchen. Wir haben ungefähr die gleiche Größe.«
    Er erhob sich wie ein Automat und folgte dem Boy ins Badezimmer, doch fast sogleich tauchte er wieder auf. »Meine Tasche«, sagte er.
    Ich hob den Sack vom Boden auf und reichte ihn ihm. Er ging zurück ins Badezimmer und schloß die Tür hinter sich.
    Der Hausboy blickte mich neugierig an. »Ist er ein… ein Verwandter, Sahib?«
    Ich lachte. »Nein, Ram Dass. Er ist einfach ein Mann, den ich am Kai aufgelesen habe.«
    Ram Dass lächelte. »Aha! Es ist die christliche Nächstenliebe.« Er schien damit zufrieden zu sein. Als einer, der erst kürzlich konvertiert war (der Stolz einer der hiesigen Missionen!), übersetzte er
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