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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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hat ihm seine Hektik im Leben weiß Gott schon genug geschadet. Jesus beschließt, ihm eine Lektion zu erteilen. Er bewegt sich drohend auf den Mann zu. Dieser weicht zurück, rempelt dabei die hinter ihm Wartenden an, bis er die Ausweglosigkeit seiner Lage erkennt und stehen bleibt. Jesus holt tief Luft.

    » DU « , sagt er mit dröhnender Stimme und stößt dem Mann seinen Finger an die Brust, » DU wirst keine Erlösung erfahren, ehe nicht alle diese Papiere geordnet sind!« Damit zeigt Jesus auf den Schreibtisch: »Los, an die Arbeit, aber dalli!« Dem Mann ist vor Schreck die letzte Farbe aus dem bleichen Gesicht gewichen. Mit zitternden Knien und einem geflüsterten »O ja, Chef, natürlich, Chef, verzeiht mir, Chef« begibt er sich an die Arbeit und sortiert Stapel um Stapel, wobei er sich wirklich als sehr geschickt erweist. Jesus hat Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Sieh mal einer an, es funktioniert!, denkt er und wendet sich den anderen zu. »So, ist hier noch irgendjemand, der sich beschweren will?« Die Wartenden ducken sich, keiner sagt ein Wort. »Gut. Dann können wir jetzt wohl weitermachen.« Jesus lässt einen nach dem anderen vortreten. Er nimmt ihre Daten auf und reicht sie dann an seinen Mitarbeiter weiter, der sie sortiert, zuordnet, abheftet. Auf diese Weise geht die Arbeit ganz leicht von der Hand. Nach kurzer Zeit schon ist der Schreibtisch leer, während die Ordner wohlgefüllt an ihrem Platz stehen. Jesus ist stolz auf sich. Wenn das der Alte sehen könnte, wäre Er bestimmt tief beeindruckt!



22

    D er Morgen dämmert. Gott erwacht und liegt neben einer Frau im Bett. Rita. Schlagartig fallen ihm die Ereignisse der letzten Nacht wieder ein. Heilige Maria Muttergottes, wie konnte das nur passieren? Zugegeben, es war schon … beachtlich. Eine Erfahrung, ja – was für eine Erfahrung! Aber es hätte trotzdem nie und nimmer geschehen dürfen. Nein, die Erde ist wirklich kein Ort für ihn. Zu vieles führt einen in Versuchung!
    Schnell richtet Er sich auf, doch da macht sich Erwins Kopf bemerkbar. Höllische Schmerzen pochen unter der Schädeldecke. Wütend streift Gott den Körper ab und lässt ihn im Bett liegen. Soll Erwin sich doch selbst damit herumschlagen! Jetzt geht es ihm gleich besser. Was für ein wundervolles Gefühl, von der Last des menschlichen Körpers befreit zu sein. Diese Leichtigkeit könnte einem zu Kopfe steigen – wenn man noch einen Kopf hätte.
    Gott schwebt über dem Bett und betrachtet die Schlafenden. »Ich danke euch«, flüstert Er und bläst zum Abschied eine große Portion Liebe zwischen die beiden. Dann entmaterialisiert er die Zeitungen und lässt Ritas Haus hinter sich.
    Gott schwebt durch Köln, wie Er es bei seiner Ankunft getan hat. Das ist wenige Erdentage und eine gefühlte Ewigkeit her. Was hat Er seitdem alles erlebt! Noch einmal legt Er sich über den Rhein, genießt das Vibrieren der Eisenbahnbrücke, wenn ein Schnellzug darüber fährt, wickelt sich um die Spitzen des Kölner Doms und sieht schließlich halb sehnsüchtig, halb erleichtert zu, wie die Stadt unter ihm immer kleiner wird. Was bleibt noch zu tun, ehe Er nach Hause zurückkehren kann? Gott überlegt. Er hat die Zeitungen und seine Erfahrungen. Das ist schon einiges, aber vielleicht nicht aussagekräftig genug für eine umfassende Untersuchung. Also beschließt Er, noch einen kurzen Blick auf den Rest der Welt zu werfen, ehe Er Jesus und dem Heiligen Geist seinen Bericht vorlegt.
    Und so sieht Er
    in Frankreich einen zahnlosen Mann, der laut und herzlich lacht,
    in Portugal ein Kind, das eine Sandburg macht,
    in Finnland einen Säufer, der von der Sonne träumt,
    in der Schweiz einen Mann, der Schnee zur Seite räumt,
    in Polen eine Köchin, die dicke Tränen vergießt,

    in der Ukraine einen Maler, der auf Farbbeutel schießt,
    in Japan einen Mann, der mit Fischen spricht,
    in China einen Tempel, der auseinander bricht,
    in Australien ein Zwillingspaar, das sich nicht einig ist,
    in Indien eine Mutter, die ihren Sohn vermisst,
    in Afrika viel Sand und im Fernsehen eine Show ohne Sinn und Verstand.
    Er sieht Bürgerkriege und Freudenfeste und Geburten und Todeskämpfe und Rettungen und Unglücke und Liebe und Hass und Frauen und Männer und Kinder und Alte und Pflanzen und Tiere und Feuer und Wasser und Vulkanausbrüche und Nervenzusammenbrüche und Treueschwüre und das Große und das Kleine und Schwarz und Weiß und Rot und Gelb und Blau – Er sieht alles.
    Alles.
    In exakt
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