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Der grüne Stern

Der grüne Stern

Titel: Der grüne Stern
Autoren: Lin Carter
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denn sie wurde in einer mir unverständlichen Sprache geführt, die ich obendrein nicht hören konnte.
    Der Geist-Zustand, in dem ich schwebte, hatte lästige Nachteile. Was sich hier vor mir abspielte, war wie ein Stummfilm.
    Der große Mann mit den grausamen Zügen und dem herrischen Auftreten, dessen Name, wie ich später erfuhr, Akhmim war, schien der Prinzessin eine Art Ultimatum zu stellen. Er brachte seine Bedingungen mit vehementen Gesten und schroffer Kürze vor, die auf eine Position absoluter Überlegenheit schließen ließen. Daß seine Bedingungen nicht nach dem Geschmack der Leute von Phaolon waren, konnte ich unschwer den bedrückten und finsteren Mienen des Hofstaats entnehmen; und daß sie kompromißlos und demütigend waren, schloß ich aus Niamhs steifer Haltung und ihren hochrot glühenden Wangen.
    Akhmims Auftreten war tatsächlich von außergewöhnlich höhnischer Arroganz, und selbst die unumgänglichen Höflichkeitsbezeigungen für den Thron gerieten ihm zu Schaustellungen selbstgefälliger Nachlässigkeit. Nachdem er gesprochen hatte, verschränkte er die Arme auf der Brust und erwartete in hochmütiger Selbstsicherheit die Antwort der Prinzessin.
    Niamh hatte die langen Lider gesenkt, aber Zorn färbte ihre Wangen, und ihr Busen hob und senkte sich schweratmend vor Empörung.
    Obwohl ich nichts von alledem verstand und keine Ahnung hatte, worum es bei dieser Konfrontation ging, fühlte ich ein übermächtiges Verlangen, Akhmim am Kragen zu packen und hinauszuwerfen. Und wenn ich die Blicke von Niamhs Höflingen richtig deutete, gab es viele in der Audienzhalle, die einer solchen Tat uneingeschränkt Beifall gezollt hätten.
    Wie es schien, war Niamhs Lage nicht so, daß sie Akhmims Ultimatum hätte zurückweisen können. Weil sie es aber auch nicht annehmen wollte, verharrte sie in verwirrter Unschlüssigkeit, die ihren anfänglichen Zorn mehr und mehr verdrängte. Ich hatte den Eindruck, daß ihre Antwort, einmal gegeben, bindend und unwiderruflich sein würde.
    Dann erregte etwas meine Aufmerksamkeit und lenkte mich von der Szene ab. Nahe der seitlichen Türöffnung, durch die Niamh in die Halle getreten war, stand ein sehr sonderbares Gebilde. Es sah aus wie ein riesiger Sarkophag, der aus feinem Glas geblasen und in beinahe grotesk anmutender Überfülle mit Pflanzenornamenten und Arabesken geschmückt war. Den niedrigen Sockel, auf dem dieses Ding stand, bedeckten Inschriften, deren Verschnörkelungen denen auf dem Sarkophag kaum nachstanden.
    In diesem gläsernen Behälter ruhte der Körper eines Mannes.
    Wenn es tatsächlich ein Toter war, so hatte sich der Leichnam so gut erhalten, daß ein unbefangener Betrachter selbst nach genauerem Hinsehen geschworen hätte, nur einen Schlafenden vor sich zu haben. Die Farbe des Lebens war in seinen Wangen, seine Lippen schienen feucht, und man glaubte fast zu sehen, wie seine mächtige Brust sich in leichten Atemzügen ein wenig hob und senkte.
    Er hatte keine Ähnlichkeit mit den zierlichen, effeminierten Männern von Phaolon. Waren sie klein und feingliedrig wie zarte junge Mädchen, so war er groß und breitschultrig, mit muskulösen Armen und Beinen. Waren ihre Gesichter feinknochig und elfenhaft, so war das seine kantig und derb, mit massigem Kinn und wettergegerbter Haut.
    Ich vermutete, daß er ein mächtiger Krieger gewesen war, denn sein grimmiger Mund und die harte Entschlossenheit seiner Züge verliehen ihm eine Ausstrahlung von befehlsgewohnter Autorität.
    Der Schlafende – wie er von den Leuten Phaolons genannt wurde – war unbekleidet, und seine mächtigen Arme waren auf seiner Brust um den Knauf eines langen Schwerts aus blauem Stahl gefaltet. Ein großer Rubin funkelte am Ende des Schwertknaufs.
    Etwas an dem Schlafenden zog mich an und ließ mich seinem Glassarkophag nähern; es war, als sei jeder Zug dieses grimmigen Gesichts in die Tafeln meiner Erinnerung eingegraben, als hatte ich ihn irgendwo, irgendwann gekannt, vielleicht in einem früheren Leben …
    Ich schwebte auf die Gestalt zu, die auf üppigen Samtpolstern ruhte – und dann geschah ein Wunder, das seltsamste unter den vielen, die ich bis dahin erlebt hatte. Denn mein Geist-Selbst schwebte, wie von einem Magneten angezogen, tiefer – und drang in den Körper des Schlafenden ein.
    Und ich lebte wieder in menschlichem Fleisch!
    Der Übergang vom körperlosen Geist zu einem, der in lebendigem Fleisch wohnte, geschah augenblicklich und überraschte mich zutiefst.
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