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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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zu erzählen.«
    »Ich auch. Wo ist Tom?«
    »Ein paar Kilometer hinter mir. Er kommt bald nach.«
    »Seid ihr gut durch den Schnee gekommen?«
    »Teilweise, aber dann ist es zu heftig geworden, und wir haben schließlich aufgegeben und den Schnee umgangen.«
    Ich schüttelte den Kopf, immer noch fassungslos, dass er hier vor mir stand. Ich erzählte ihm, dass Greg ausgestiegen war, und fragte ihn nach Albert und Matt.
    »Seit wir sie das letzte Mal gesehen haben, habe ich nichts mehr von ihnen gehört.« Er sah mich mit lebhaft funkelnden Augen an und lächelte. »Wir haben den ganzen Sommer über deine Einträge im Register gelesen. Sie haben uns dazu motiviert, uns noch mehr ins Zeug zu legen. Wir wollten dich einholen.«
    »Ich wollte gerade aufbrechen«, sagte ich, bückte mich und hob das Päckchen auf, das ich vor Aufregung hatte fallen lassen. »Eine Minute später, und ich wäre weg gewesen, und wer weiß, ob ihr mich dann noch eingeholt hättet.«
    »Ich hätte dich eingeholt«, sagte er und lachte dieses Sunnyboy-Lachen, das ich so lebhaft in Erinnerung hatte, obwohl auch das sich inzwischen verändert hatte. Er wirkte nicht mehr ganz so unbeschwert und etwas mitgenommen, als wäre er in den letzten Monaten um Jahre gealtert. »Wartest du, bis ich meine Sachen erledigt habe? Dann könnten wir zusammen weiter.«
    »Klar«, sagte ich ohne Zögern. »Die letzten Tage bis Cascade Locks muss ich allein wandern – ich will so aufhören, wie ich angefangen habe –, aber bis zur Timberline Lodge können wir zusammenbleiben.«
    »Heilige Scheiße, Cheryl.« Er drückte mich noch einmal an sich. »Ich kann es einfach nicht fassen, dass wir uns hier getroffen haben. He, du hast ja noch die schwarze Feder, die ich dir geschenkt habe!« Er strich über ihren ausgefransten Rand.
    »Sie war mein Glücksbringer«, sagte ich.
    »Was ist mit dem Wein?«, fragte er und deutete auf die Flasche in meiner Hand.
    »Ich wollte ihn gerade dem Ranger schenken«, antwortete ich und hob sie in die Höhe. »Ich will die Flasche nicht bis Timberline mitschleppen.«
    »Bist du verrückt?«, sagte Doug. »Gib sie mir.«
    Wir öffneten sie am selben Abend in unserem Lager am Warm Spring River mit dem Korkenzieher an meinem Taschenmesser. Tagsüber hatte es knapp über zwanzig Grad gehabt, doch am Abend wurde es kühl, und rings um uns zeigten sich erste Vorboten des Herbstes. Das Laub auf den Bäumen lichtete sich bereits kaum merklich, und die Wildblumen ließen welk die Köpfe hängen. Doug und ich machten ein Feuer, während unser Abendessen köchelte, dann saßen wir da, aßen aus unseren Töpfen und tranken abwechselnd aus der Flasche, da wir keine Becher hatten. Mit Doug, den ich so lange nicht gesehen hatte, an einem Feuer zu sitzen und Wein zu trinken war für mich wie ein Übergangsritus, wie eine Zeremonie, die das Ende meiner Reise markierte.
    Nach einer Weile vernahmen wir Kojotengeheul und spähten in die Dunkelheit. Es hörte sich an, als käme es ganz aus der Nähe.
    »Bei dem Geheul stehen mir die Haare zu Berge«, sagte Doug, nahm einen Schluck aus der Flasche und reichte sie mir. »Der Wein ist wirklich gut.«
    »Ja«, sagte ich und trank. »Ich habe in diesem Sommer oft Kojoten gehört.«
    »Und du hast keine Angst bekommen, stimmt’s? Das hattest du dir doch vorgenommen.«
    »Ja, das hatte ich mir vorgenommen«, erwiderte ich. »Aber ein paarmal hatte ich trotzdem welche.«
    »Ich auch.« Er legte mir die Hand auf die Schulter, und ich legte meine Hand auf seine und drückte sie. Er war für mich wie ein Bruder, aber überhaupt nicht so wie mein richtiger Bruder. Er kam mir wie jemand vor, den ich immer kennen würde, selbst wenn ich ihn nie wiedersehen sollte.
    Als die Weinflasche leer war, ging ich zum Monster und zog den Ziplock-Beutel mit meinen Büchern heraus. »Brauchst du etwas zu lesen?«, fragte ich Doug und hielt ihm The Ten Thousand Things hin, aber er schüttelte den Kopf. Ich hatte das Buch vor ein paar Tagen ausgelesen, wegen des Regens aber noch nicht verbrennen können. Im Unterschied zu den anderen Büchern, die ich auf der Wanderung gelesen hatte, hatte ich The Ten Thousand Things bereits gekannt, als ich es Monate zuvor in mein Versorgungspaket gepackt hatte. Der sehr lyrische, auf den Molukken-Inseln in Indonesien spielende und ursprünglich in niederländischer Sprache verfasste Roman war bei seinem Erscheinen 1955 von der Kritik gefeiert worden, seitdem aber weitgehend in Vergessenheit
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