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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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geraten. Ich hatte nie jemanden getroffen, der ihn kannte, abgesehen von einem Literaturprofessor am College, der ihn mir in einem Seminar, das ich während der Krankheit meiner Mutter besuchte, zur Besprechung zugeteilt hatte. Das Buch ließ mich nicht kalt, als ich es im Krankenzimmer meiner Mutter pflichtschuldig las. Ich versuchte, meine Angst und meine Sorgen auszublenden und mich auf die Textstellen zu konzentrieren, über die ich in der kommenden Woche im Seminar referieren sollte, doch es war zwecklos. Ich konnte an nichts anderes denken als meine Mutter. Im Übrigen wusste ich bereits, was die zehntausend Dinge waren. Sie waren all die benannten und unbenannten Dinge auf der Welt, aber alle zusammen waren nicht so groß wie die Liebe meiner Mutter zu mir. Und meine zu ihr. Beim Packen für den PCT hatte ich beschlossen, es noch einmal mit dem Buch zu probieren. Diesmal hatte ich keine Mühe gehabt, mich darauf zu konzentrieren. Ich verstand es von der ersten Seite an. Jeder Satz Maria Dermoûts war für mich wie ein sanfter Stich der Erkenntnis, und das ferne Land, das sie schilderte, erschien mir wie die Quintessenz all der Orte, die ich einmal geliebt hatte.
    »Ich glaube, ich hau mich in die Falle«, sagte Doug, die leere Weinflasche in der Hand. »Tom wird uns wahrscheinlich morgen einholen.«
    »Ich lösche dann das Feuer«, sagte ich.
    Als er fort war, riss ich die Seiten von The Ten Thousand Things aus dem gummierten Taschenbucheinband, warf sie zusammengeknüllt ins Feuer und schürte mit einem Stock, bis sie brannten. Während ich in die Flammen starrte, dachte ich an Eddie, wie fast immer, wenn ich an einem Feuer saß. Er hatte mir das Feuermachen beigebracht. Mit Eddie hatte ich das erste Mal gezeltet. Er hatte mir gezeigt, wie man ein Zelt aufbaut und einen richtigen Knoten macht. Von ihm hatte ich gelernt, wie man mit dem Taschenmesser eine Dose öffnet, wie man Kanu fährt und wie man einen Stein übers Wasser hüpfen lässt. In den ersten drei Jahren, nachdem er sich in meine Mutter verliebt hatte, fuhr er von Juni bis September praktisch jedes Wochenende mit uns zum Campen und Kanufahren an den Minnesota, den St. Croix oder den Namekagon River, und als wir auf das Stück Land zogen, das meine Familie mit der Abfindung für seinen Arbeitsunfall gekauft hatte, brachte er mir noch mehr über den Wald bei.
    Niemand kann wissen, warum das eine geschieht und das andere nicht. Was zu was führt. Was was zerstört. Was der Grund dafür ist, dass etwas erblüht, etwas anderes zugrunde geht oder einen anderen Verlauf nimmt. Doch als ich an diesem Abend am Feuer saß, war ich mir ziemlich sicher, dass ich mich, wäre Eddie nicht gewesen, niemals auf dem PCT wiedergefunden hätte. Und wenn mir auch alles, was ich für ihn empfand, wie ein dicker Kloß im Hals steckte, so machte diese Erkenntnis den Kloß doch um einiges erträglicher. Am Ende hatte er mich nicht sehr geliebt, aber er hatte mich sehr geliebt, als es wichtig war.
    Als The Ten Thousand Things zu Asche zerfallen war, zog ich das andere Buch aus dem Ziplock-Beutel. Der Traum einer gemeinsamen Sprache. Ich hatte es die ganze Zeit bei mir getragen, aber seit dem allerersten Abend auf dem Trail nicht mehr aufgeschlagen. Das war auch nicht nötig. Ich wusste, was darin stand. Teile daraus waren den ganzen Sommer über in dem Hitradio in meinem Kopf gelaufen, Verse verschiedener Gedichte oder der Titel des Buchs selbst, der zugleich auch eine Gedichtzeile war: der Traum einer gemeinsamen Sprache. Ich schlug es auf, blätterte darin und beugte mich vor, damit ich die Worte im Feuerschein lesen konnte. Ich las eine oder zwei Zeilen aus ungefähr einem Dutzend Gedichten, von denen mir jedes so vertraut war, dass es mir auf merkwürdige Weise Trost spendete. Oft wusste ich nicht genau, was sie bedeuteten, doch in gewisser Weise verstand ich sie vollkommen, als hätte ich ihren Sinn vor mir und könnte ihn nur nicht fassen wie einen Fisch, der direkt unter der Wasseroberfläche schwamm und den ich mit bloßen Händen zu fangen versuchte – so nah, so präsent und so sehr zu mir gehörig –, bis ich nach ihm griff und er davonschnellte.
    Ich klappte das Buch zu und betrachtete den sandfarbenen Einband. Es gab keinen Grund, dieses Buch nicht auch zu verbrennen.
    Doch ich drückte es mir nur an die Brust.
    Zwei Tage später erreichten wir die Timberline Lodge. Doug und ich waren mittlerweile nicht mehr allein. Tom hatte uns eingeholt, und außerdem
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