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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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River auf, hinter einem Maschendrahtzaun, der den Trail von der direkt darunter vorbeiführenden Interstate 84 abgrenzte. Ich blieb stehen, griff in den Zaun und machte große Augen. Es erschien mir wie ein Wunder, dass ich den Fluss endlich vor mir sah, als wäre mir ein Neugeborenes nach langen Wehen in die Hände geflutscht. Dieses schimmernde dunkle Wasser war schöner als jede Vorstellung, die ich mir auf meiner langen Wanderung von ihm gemacht hatte.
    Ich wanderte in östlicher Richtung durch einen üppig grünen Korridor, auf dem Straßenbett des vor langer Zeit stillgelegten Columbia River Highway, der in einen Wanderweg umgewandelt worden war. An manchen Stellen sah ich noch Beton, aber den größten Teil der Straße hatte die Natur zurückerobert: das Moos, das an den Felsen am Straßenrand wuchs, die Bäume, deren Äste tief und schwer über der Fahrbahn hingen, und die Spinnen, die über ihre ganze Breite Netze gespannt hatten. Ich marschierte durch die Spinnweben, spürte sie wie einen Hauch im Gesicht, zupfte sie mir aus den Haaren. Zu meiner Linken konnte ich die Autos auf der zwischen mir und dem Fluss verlaufenden Interstate hören, das übliche laute Rauschen und Brummen.
    Als ich aus dem Wald trat, befand ich mich in Cascade Locks, das im Unterschied zu vielen anderen Orten am Trail eine richtige Kleinstadt war mit knapp über tausend Einwohnern. Es war ein Freitagmorgen, und die Häuser, an denen ich vorbeikam, verströmten eine Freitagmorgenstimmung. Begleitet vom Klicken meines Skistocks auf dem Asphalt, ging ich unterhalb der Interstate 84 durch die Straßen, und mein Herz begann zu rasen, als die Brücke in Sicht kam: eine elegant geschwungene, stählerne Auslegerbrücke, deren Name auf eine natürliche Felsbrücke zurückgeht, die vor ungefähr dreihundert Jahren durch einen großen Erdrutsch entstanden war, den Columbia River vorübergehend aufgestaut hatte und von den Indianern der Region Brücke der Götter genannt worden war. Das von Menschenhand geschaffene Bauwerk spannt sich 566 Meter weit über den Fluss und verbindet die Bundesstaaten Oregon und Washington und die Ortschaften Cascade Locks und Stevenson. Auf der Oregoner Seite gibt es eine Mautstelle, und als ich dort ankam, sagte mir die Frau in dem Häuschen, dass ich die Brücke kostenlos überqueren dürfe.
    »Ich will gar nicht hinüber«, sagte ich. »Ich will sie nur berühren.« Ich ging an der Straße entlang, bis ich die Stahlpfeiler der Brücke erreichte, legte meine Hand darauf und blickte auf den unter mir vorbeifließenden Columbia River hinab. Er ist der größte Fluss in der Pacific-Northwest-Region und der viertgrößte des Landes. An seinen Ufern haben jahrtausendelang Indianer gelebt, deren wichtigste Existenzgrundlage der Lachs bildete, den es einst in Hülle und Fülle gab. Meriwether Lewis und William Clark waren den Fluss im Jahr 1805 während ihrer berühmten Expedition in Einbäumen hinuntergepaddelt. Einhundertneunzig Jahre später und zwei Tage vor meinem siebenundzwanzigsten Geburtstag war ich nun hier.
    Ich war am Ziel. Ich hatte es geschafft. Es erschien mir jetzt wie eine Kleinigkeit und etwas Gewaltiges zugleich, wie ein Geheimnis, dass ich mir immer wieder selbst erzählte, obwohl ich seine Bedeutung noch nicht kannte. Ich blieb mehrere Minuten dort stehen. Autos und Lastwagen fuhren an mir vorbei, und mir war nach Weinen zumute, aber ich weinte nicht.
    Wochen zuvor hatte ich auf dem Trail gehört, dass ich in Cascade Locks unbedingt in den East Wind Drive-In gehen und ein Eis essen müsse. Er sei für sein Eis berühmt. Nur aus diesem Grund hatte ich in der Timberline Lodge nicht mein ganzes Geld ausgegeben und mir zwei Dollar aufgespart. Ich verließ die Brücke und ging durch eine belebte Straße, die parallel zum Fluss und zur Interstate verlief, zwischen denen die Straße und ein Großteil der Stadt eingeklemmt waren. Es war noch Vormittag, und der Drive-in hatte noch nicht geöffnet, also setzte ich mich auf die kleine weiße Holzbank davor und stellte das Monster neben mich.
    Noch heute würde ich in Portland sein. Es lag nur siebzig Kilometer westlich von hier. Ich würde auf meinem alten Futon unter dem Dach schlafen. Ich würde meine CDs und meine Stereoanlage auspacken und mir jedes Stück anhören, das mir gefiel. Ich würde meinen schwarzen Spitzen-BH, einen Slip und Jeans tragen. Ich würde all die herrlichen Sachen essen und trinken, auf die ich Appetit hatte. Ich würde mit meinem
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