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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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Pick-up hinfahren, wohin ich wollte. Ich würde meinen Computer anschließen und an meinem Roman schreiben. Ich würde die Kisten mit Büchern, die ich aus Minnesota mitgebracht hatte, hervorkramen und am nächsten Tag bei Powell’s verkaufen, um zu etwas Geld zu kommen. Ich würde einen privaten Flohmarkt veranstalten, um mich finanziell über Wasser zu halten, bis ich einen Job hatte. Ich würde meine Secondhand-Kleider, mein Mini-Fernglas und meine Klappsäge im Gras auslegen und möglichst viel für sie heraushandeln. Der Gedanke an das alles erstaunte mich.
    »Jetzt sind wir für Sie da«, rief eine Frau, die den Kopf aus dem Schiebefenster am Drive-in streckte.
    Ich bestellte eine Eistüte mit Schokolade und Vanille, und Augenblicke später reichte sie mir die Tüte, nahm meine zwei Dollar und gab mir zwei Zehn-Cent-Stücke heraus. Mehr Geld besaß ich nicht mehr. Zwanzig Cent. Ich setzte mich auf die weiße Bank, aß mein Eis und beobachtete wieder die Autos. Ich war die einzige Kundin im Drive-in, bis irgendwann ein BMW vorfuhr und ein junger Mann im Business-Anzug ausstieg.
    »Hallo«, grüßte er mich im Vorbeigehen. Er war etwa in meinem Alter und hatte nach hinten gegeltes Haar und blitzblanke Schuhe. Gleich darauf kam er mit einem Eis zurück und blieb neben mir stehen.
    »Sieht so aus, als wären Sie gewandert.«
    »Ja. Auf dem Pacific Crest Trail. Ich habe über 1700 Kilometer zurückgelegt«, sagte ich, zu aufgewühlt, um an mich zu halten. »Seit heute Morgen bin ich fertig.«
    »Tatsächlich?«
    Ich nickte und lachte.
    »Unglaublich. So etwas wollte ich auch schon immer mal machen. Eine große Wanderung.«
    »Das können Sie immer noch. Ich kann Ihnen nur dazu raten. Glauben Sie mir, wenn ich es kann, kann es jeder.«
    »Ich kann mir nicht so lange frei nehmen – ich bin Anwalt«, sagte er, warf sein Eis halb aufgegessen in den Mülleimer und wischte sich mit einer Serviette die Hände ab. »Was haben Sie jetzt vor?«
    »Ich will nach Portland. Ich werde dort eine Zeitlang leben.«
    »Ich bin aus Portland und fahre jetzt hin, falls Sie eine Mitfahrgelegenheit brauchen. Ich setze Sie überall ab, wo Sie wollen.«
    »Danke«, sagte ich. »Aber ich möchte noch eine Weile hierbleiben. Alles auf mich wirken lassen.«
    Er zog eine Visitenkarte aus seiner Brieftasche und reichte sie mir. »Rufen Sie mich an, wenn Sie sich eingelebt haben. Ich würde Sie gern zum Essen einladen und mir von Ihrer Reise erzählen lassen.«
    »Okay«, sagte ich und sah mir die Karte an. Sie war weiß mit erhabenen blauen Lettern, ein Relikt aus einer anderen Welt.
    »Es war mir eine Freude, Sie in diesem bedeutsamen Augenblick kennenzulernen«, sagte er.
    »Die Freude war ganz meinerseits«, sagte ich und gab ihm die Hand.
    Nachdem er weggefahren war, lehnte ich den Kopf zurück, drehte das Gesicht in die Sonne und schloss die Augen. Die Tränen, die ich eigentlich vorhin auf der Brücke erwartet hatte, begannen jetzt zu fließen. Danke, dachte ich immer wieder. Danke. Nicht nur für die lange Wanderung, sondern für alles, was ich in mir wachsen spürte;für alles, was mich der Trail gelehrt hatte, und alles, was ich noch nicht wissen konnte, aber schon jetzt irgendwie in mir spürte. Dass ich den Mann im BMW nie wiedersehen würde, dass ich aber in vier Jahren mit einem Mann die Brücke der Götter überqueren und ihn an einem Ort heiraten würde, der von dort, wo ich jetzt saß, beinahe zu sehen war. Dass dieser Mann und ich in neun Jahren einen Sohn namens Carver und anderthalb Jahre später eine Tochter namens Bobbi bekommen würden. Dass ich in fünfzehn Jahren mit meiner Familie zu dieser weißen Bank zurückkehren, mit ihr ein Eis essen und von der Zeit erzählen würde, als ich das erste Mal hier war, am Ende einer langen Wanderung auf dem Pacific Crest Trail. Und dass sich mir erst dann der Sinn meiner Wanderung und das Geheimnis, das ich mir immer wieder erzählt hatte, offenbaren würden.
    Und dass mich das dazu bewegen würde, diese Geschichte zu erzählen.
    Ich wusste nicht, dass ich in den Jahren zurückreisen und nach Menschen suchen würde, die ich auf dem Trail kennengelernt hatte, dass ich einige finden würde und andere nicht. Oder dass ich in einem Fall auf etwas stoßen würde, worauf ich nicht gefasst war: eine Todesanzeige. Dougs Todesanzeige. Dass ich lesen würde, dass er neun Jahre, nachdem wir auf dem Trail voneinander Abschied genommen hatten, beim Drachenfliegen in Neuseeland tödlich
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