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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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blauer denn je. Der Trail öffnete sich und bot einen weiten Ausblick ins Land, dann führte er wieder durch dichten Wald, ehe er sich abermals lichtete. Ich legte ohne eine einzige Pause sechzehn Kilometer zurück, überquerte den Sandy River und setzte mich auf einen kleinen, flachen Felsen am anderen Ufer. Fast alle Seiten von The Pacific Crest Trail, Volume II: Oregon and Washington waren inzwischen verbrannt. Was von meinem Wanderführer noch übrig war, steckte zusammengefaltet in der Tasche meiner Shorts. Ich zog die Seiten heraus und las sie noch einmal, wanderte in Gedanken die gesamte Strecke ab bis zum Schluss. Die Aussicht, endlich Cascade Locks zu erreichen, stimmte mich euphorisch und traurig zugleich. Ich wusste nicht, wie es gekommen war, aber im Freien zu leben, jede Nacht in einem Zelt auf der Erde zu schlafen und fast jeden Tag von morgens bis abends allein durch die Wildnis zu wandern war zu meinem normalen Leben geworden. Die Vorstellung, es nicht mehr zu tun, machte mir Angst.
    Ich ging zum Fluss, hockte mich hin und wusch mir das Gesicht. Der Fluss war an dieser Stelle schmal und seicht, so spät im Sommer und in dieser Höhe kaum größer als ein Bach. Wo war meine Mutter?, fragte ich mich. Ich hatte sie so lange getragen und unter ihrem Gewicht gewankt.
    Auf der anderen Seite des Flusses, erlaubte ich mir zu denken.
    Und etwas in meinem Innern ließ los.
    In den folgenden Tagen kam ich an den Ramona Falls vorüber und kurvte an der Grenze der Columbia Wilderness entlang. Ich erhaschte Blicke auf den Mount St. Helens, den Mount Rainier und den Mount Adams weit im Norden. Ich gelangte an den Wahtum Lake, bog vom PCT ab und nahm eine Alternativroute, die das Autorengespann meines Führers empfahl. Sie führte zum Eagle Creek hinunter, dann in die Felsenschlucht des Columbia River und schließlich zu dem Fluss selbst, der an der Ortschaft Cascade Locks vorbeifloss.
    An diesem letzten vollen Marschtag ging es nur bergab. Auf einer Strecke von nur fünfundzwanzig Kilometern verlor der Trail 1200 Höhenmeter. Auch die Bäche und Rinnsale, die ich überquerte oder an denen ich entlangging, führten unablässig bergab. Ich hatte das Gefühl, dass mich der Fluss wie ein großer Magnet nach unten und nach Norden zog. Ich spürte, wie es dem Ende zuging. Ich machte Halt, um die Nacht am Eagle Creek zu verbringen. Es war erst fünf, und nur zehn Kilometer trennten mich noch von Cascade Locks. Bis Einbruch der Dunkelheit hätte ich dort sein können. Aber so wollte ich meine Reise nicht beschließen. Ich wollte mir Zeit lassen und den Fluss und die Brücke der Götter bei vollem Tageslicht sehen.
    An diesem Abend saß ich am Eagle Creek und sah zu, wie sich das Wasser über die Felsen stürzte. Von dem langen Abstieg taten mir höllisch die Füße weh. Obwohl ich eine gewaltige Strecke zurückgelegt hatte und mich so stark fühlte wie nie zuvor und auch später nie wieder, war das Wandern auf dem PCT immer noch eine Qual. Ich hatte mir an den Zehen wieder Blasen gelaufen, weil sich an bestimmten Stellen wegen der relativ wenigen extremen Abstiege in Oregon die Hornhaut zurückgebildet hatte. Ich betastete sie vorsichtig und linderte die Schmerzen mit meiner Berührung. Ein weiterer Zehennagel sah so aus, als wollte er sich ablösen. Ein sanfter Ruck, und ich hielt ihn in der Hand. Der sechste. Jetzt besaß ich nur noch vier intakte Zehennägel.
    Zwischen dem PCT und mir stand es nicht mehr unentschieden. Er war mit 6:4 in Führung gegangen.
    Ich schlief auf meiner Plane, denn ich wollte mich in dieser letzten Nacht nicht schützen, und stand vor Tagesanbruch auf, um die Sonne über dem Mount Hood aufgehen zu sehen. Es war tatsächlich vorbei, dachte ich. Es gab kein Zurück, keine Möglichkeit, den Augenblick festzuhalten. Die gab es nie. Ich saß eine ganze Weile da, wartete, bis das Licht in den Himmel flutete, sich ausbreitete und schließlich die Bäume erreichte. Ich schloss die Augen und lauschte dem Eagle Creek.
    Er war auf dem Weg zum Columbia River, wie ich.
    Auf den letzten sechs Kilometern bis zu dem kleinen Parkplatz am Beginn des Eagle Creek Trail schien ich zu schweben, getragen von einem reinen, ungetrübten Gefühl, das man nur als Freude beschreiben kann. Ich spazierte über den fast leeren Parkplatz, vorbei an Toilettenhäuschen, und folgte dann einem anderen Pfad, der in das drei Kilometer entfernte Cascade Locks führte. Der Pfad bog scharf rechts ab, und vor mir tauchte der Columbia
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