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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Autoren: Michael Crichton
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Februar, am folgenden Tag also, wurde Pierce wieder zu Harranby ins Büro gebracht und mit der Nachricht konfrontiert.
    »Nun«, sagte Pierce, »die Schufte müssen mich beraubt haben.«
    Er blieb jedoch ganz ruhig; es schien ihm nicht viel auszumachen. Harranby sprach ihn darauf an.
    »Barlow«, sagte Pierce. »Ich habe schon immer gewußt, daß man ihm nicht trauen kann.«
    »Sie glauben also, daß Barlow das Gold an sich genommen hat?«
    »Wer denn sonst?«
    Ein kurzes Schweigen trat ein. Harranby lauschte dem Tikken der Uhr. Diesmal irritierte es ihn mehr als seinen Gefangenen. Der Mann schien bemerkenswert gelassen zu sein.
    »Macht es Ihnen denn nichts aus«, fragte Harranby, »dass Ihre Komplicen Sie so reingelegt haben?«
    »Ich habe eben Pech gehabt«, sagte Pierce mit ruhiger Stimme. »Und Sie auch«, setzte er mit feinem Lächeln hinzu.
    »Aus seinem beherrschten Benehmen und seinem höflichen Auftreten«, schrieb Harranby, »glaubte ich schließen zu können, daß er sich irgendwie eine neue Geschichte ausgedacht hatte, um uns von der Fährte abzubringen. Bei meinen weiteren Versuchen aber, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, wurde ich empfindlich gestört, denn am 1. Mai 1857 erfuhr ein Reporter der Times von Pierce’ Festnahme, und von da an konnten wir ihn nicht mehr so ungestört in Gewahrsam halten wie zuvor.«
    Mr. Sharp zufolge nahm sein Chef den Bericht der Times über Pierce’ Festnahme »mit hitzigen Verwünschungen und heftigen Zornausbrüchen auf«. Harranby verlangte zu wissen, woher die Zeitung von der Geschichte erfahren habe. Die Times weigerte sich, ihre Quelle preiszugeben.
    Ein Wärter in Coldbath, von dem man vermutete, er sei derjenige, der geschwatzt habe, wurde sofort entlassen, aber der wahre Sachverhalt wurde nie aufgeklärt. Es wurde sogar gemunkelt, der Hinweis sei aus dem Büro des Premierministers gekommen.
    Der Beginn des Prozesses gegen Burgess, Agar und Pierce wurde daraufhin auf den 12. Juli 1857 festgesetzt.

England hat andere Sorgen
    Der Prozeß gegen die drei Eisenbahnräuber rief in der Öffentlichkeit das gleiche fieberhafte Interesse hervor wie einst das Verbrechen selbst. Die Vertreter der Anklage, die sich wohl bewußt waren, daß dieses Ereignis im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand, gaben sich alle Mühe, das prozessuale Vorgehen so dramatisch wie möglich zu gestalten. Burgess, die unbedeutendste Figur im Spiel, wurde als erster auf die Anklagebank in Old Bailey geführt. Die Tatsache, daß dieser Mann nur Einzelheiten der gesamten Geschichte kannte, machte der Öffentlichkeit nur den Mund wässerig, mehr zu erfahren.
    Als nächster wurde Agar vorgeführt und vernommen. Er konnte mit weiteren Informationen aufwarten. Aber auch Agar war nun einmal nicht die Hauptperson, und seine Aussage steigerte noch die Spannung auf das Erscheinen des Mannes, den die Presse als »Meisterverbrecher« und als »die brillante, böse treibende Kraft hinter der Tat« bezeichnete.
    Pierce war noch immer in Coldbath Fields eingekerkert, und bisher hatte ihn weder die Öffentlichkeit noch die Presse zu Gesicht bekommen. So konnten übereifrige Reporter unwidersprochen die wildesten und phantasievollsten Berichte über das Aussehen dieses Mannes, seine Manieren und seinen Lebensstil zusammenbrauen. Vieles, was in den ersten beiden Juliwochen des Jahres 1857 über ihn geschrieben wurde, war offenkundig unwahr: daß Pierce mit drei Geliebten unter einem Dach gewohnt habe und ein »menschlicher Dynamo« sei; daß er der Kopf hinter dem großen Scheckschwindel von 1852 sei; daß er der illegitime Sohn Napoleons I. sei; daß er Kokain und Opium nehme; daß er früher mit einer deutschen Gräfin verheiratet gewesen sei, die er 1848 in Hamburg ermordet habe. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß auch nur eine dieser Geschichten den Tatsachen entspricht. Doch brachte die Presse auf diese Weise die Anteilnahme der Öffentlichkeit zum Sieden.
    Selbst Königin Victoria war gegen die Faszination »dieses äußerst kühnen und heimtückischen Schurken, den Wir gern aus nächster Nähe sehen würden«, nicht gefeit. Sie gab außerdem dem Wunsch Ausdruck, seiner Hinrichtung beizuwohnen. Offenkundig war ihr entgangen, daß auf schweren Diebstahl 1857 in England nicht mehr die Todesstrafe stand.
    Vor den Mauern von Coldbath Fields hatten sich seit Wochen immer wieder riesige Menschenmengen versammelt, nur auf die unwahrscheinliche Chance hin, einen Blick auf den Meisterdieb zu
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