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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Autoren: Michael Crichton
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dabei bewußt, daß die Öffentlichkeit sich auf das bisherige kühle Auftreten und das augenscheinliche Fehlen jeglichen Schuldbewußtseins beim Angeklagten keinen Vers machen konnte.
    »Mr. Pierce«, sagte der Ankläger und richtete sich dabei zu seiner vollen Größe auf, »Mr. Pierce, ich frage Sie direkt: Haben Sie niemals, zu keinem Zeitpunkt, das Gefühl gehabt, Sie hätten etwas Ungehöriges getan, sich gesetzwidrig verhalten, einen Fehltritt begangen oder moralisch versagt? Haben Sie bei der Ausführung der Ihnen zur Last gelegten Taten nicht einmal das Gefühl gehabt, Unrecht zu tun?«
    »Ich verstehe Ihre Frage nicht«, sagte Pierce.
    Der Ankläger soll bei dieser Antwort leise gelacht haben.
    »Ja, mir ist schon klar, daß Sie nichts derlei empfunden haben. Sie sind eine lebendige Antwort auf meine Frage, wie Sie da vor mir stehen.«
    An dieser Stelle räusperte sich der Vorsitzende und hielt vom Richtertisch herab folgende Ansprache: »Sir«, sagte der Vorsitzende des Gerichtshofs, »es ist eine unumstrittene Wahrheit der Jurisprudenz, daß Gesetze von Menschen geschaffen worden sind und daß zivilisierte Menschen, einer Tradition von mehr als zwei Jahrtausend folgend, übereingekommen sind, diese Gesetze um des Gemeinwohls der Gesellschaft willen zu beachten. Denn nur durch die Hoheit des Gesetzes erhebt sich jede Zivilisation über das verachtungswürdige Elend der Barbarei. Das wissen wir aus allen uns überlieferten Zeugnissen der Geschichte der Menschheit, und diese Erkenntnis geben wir auch an all unsere Mitbürger weiter, damit sie bei der künftigen Fortentwicklung der Menschheit nicht verlorengeht.
    Jetzt geht es um die Frage Ihres Motivs, Sir, und ich frage Sie mit allem Ernst: Warum haben Sie dieses heimtückische und verabscheuungswürdige Verbrechen ersonnen, geplant und ausgeführt?«
    Pierce zuckte die Achseln. »Ich wollte das Gold«, sagte er.
    Im Anschluß an seine Aussage wurde Pierce gefesselt und von zwei bewaffneten Wärtern aus dem Gerichtssaal geführt. An der Tür kam Pierce an Mr. Harranby vorüber.
    »Alles Gute!« sagte Mr. Harranby.
    »Leben Sie wohl«, entgegnete Pierce.
    Pierce wurde durch einen Hinterausgang aus dem Gerichtsgebäude geführt. Auf dem Hof wartete der Polizeiwagen, der ihn nach Coldbath Fields bringen sollte. Auf den Treppenstufen von Old Bailey hatte sich eine ansehnliche Menschenmenge eingefunden. Gerichtsdiener und Wärter drängten die Schaulustigen zurück, die Pierce hochleben ließen und ihm Glück wünschten. Eine lüsterne alte Hure, welche die Absperrung durchbrach, brachte das Kunststück fertig, den Häftling voll auf den Mund zu küssen, wenn auch nur für einen Moment, bis es den Polizeibeamten gelang, sie abzudrängen.
    Man nimmt an, daß es sich bei dieser Hure um die Schauspielerin Miss Miriam gehandelt hat, die Pierce bei diesem Kuß den Schlüssel zu seinen Handschellen übergab, aber das ist nicht mit letzter Sicherheit erwiesen. Sicher ist nur, daß die zwei mit Knüppeln bewußtlos geschlagenen Wärter, die man später in der Nähe der Bow Street im Rinnstein liegend fand, die Einzelheiten der Flucht des Edward Pierce nicht exakt zu rekonstruieren vermochten. Ihnen war nur eines in Erinnerung geblieben – das Aussehen eines mit Pferd und Wagen wartenden Kutschers. Der Mann sei, wie die Wärter übereinstimmend bezeugten, ein grobschlächtiger Bursche mit einer häßlichen weißen Narbe auf der Stirn gewesen.
    Der Polizeiwagen wurde später auf einem Acker in Hampstead aufgefunden. Weder Pierce noch der Kutscher wurden je gefaßt. Die Zeitungsberichte über die gelungene Flucht von Pierce sind sehr vage, aber alle erwähnen, daß die zuständigen Stellen mit Auskünften äußerst zurückhaltend gewesen seien.
    Im September eroberten die Briten Cawnpore zurück. Sie machten keine Gefangenen, sondern verbrannten, erhängten und massakrierten ihre Opfer. Als die Engländer das blutgetränkte Gebäude entdeckten, in dem die britischen Frauen und Kinder abgeschlachtet worden waren, zwangen sie die Eingeborenen, den Fußboden abzulecken, bevor sie sie aufhängten. Sie stürmten weiter durch ganz Indien, marschierten bis zu sechzig Meilen am Tag – diese Strafexpedition ist in der Geschichte als »Teufelssturm« überliefert –, verbrannten ganze Dörfer, ermordeten jeden Inder, der ihnen über den Weg lief, banden Aufständische vor die Mündungen ihrer Kanonenrohre und ließen sie zerfetzen.
    Der indische Aufstand war noch vor Jahresende
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