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Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Der Grosse Eisenbahnraub: Roman

Titel: Der Grosse Eisenbahnraub: Roman
Autoren: Michael Crichton
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erhaschen. In Pierce’ Haus in Mayfair wurde dreimal von gierigen Andenkenjägern eingebrochen. Eine »Dame der Gesellschaft«, über die keine näheren Angaben gemacht wurden, überraschte man dabei, wie sie das Haus mit einem Herrentaschentuch verließ. Sie soll nicht die geringste Verlegenheit gezeigt, sondern nur gesagt haben, sie habe sich ein Andenken an den Mann holen wollen.
    Die Times klagte, diese Faszination für einen Verbrecher sei »unziemlich, ja geradezu dekadent«. Das Blatt schreckte nicht einmal vor der Behauptung zurück, das Verhalten der Öffentlichkeit spiegele »irgendeinen fatalen Makel im britischen Nationalcharakter« wider.
    Doch ein geschichtliches Ereignis bewirkte, daß die Öffentlichkeit, als Pierce am 29. Juli zum erstenmal vor seinen Richtern stand, seinem Auftritt kaum noch Aufmerksamkeit schenkte. England sah sich herausgefordert: in Indien war ein blutiger Aufstand ausgebrochen.
    Das wachsende britische Weltreich hatte in den vergangenen Jahrzehnten zwei größere Rückschläge hinnehmen müssen. Den ersten in Kabul, Afghanistan, wo 1842 16.500 britische Soldaten, Frauen und Kinder innerhalb von sechs Tagen umgekommen waren. Der zweite war der inzwischen beendete Krim-Krieg, der Forderungen nach einer Armeereform hatte laut werden lassen. Das Unbehagen über die Streitkräfte war inzwischen so stark geworden, daß selbst Lord Cardigan, der einstige Nationalheld, in Mißkredit geraten war: Er wurde beschuldigt (zu Unrecht), beim Angriff der Light Brigade nicht zugegen gewesen zu sein. Seine Eheschließung mit der skandalumwitterten Kunstreiterin Adeline Horsey de Horsey hatte seinem Ruf noch weiter Abbruch getan.
    Und jetzt wurde dem englischen Selbstbewußtsein und der englischen Weltherrschaft durch den Aufruhr in Indien ein weiterer schwerer Schlag versetzt. Daß die Engländer sich über Indien keine großen Sorgen machten, geht daraus hervor, daß sie dort nur 34.000 europäische Soldaten unterhielten, die eine Viertelmillion eingeborener Soldaten befehligten, Sepoys genannt, die ihren englischen Vorgesetzten gegenüber keine übermäßige Loyalität an den Tag legten.
    Seit den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts war England in Indien zunehmend willkürlich und anmaßend aufgetreten. Die neue evangelische Inbrunst der Rechtgläubigkeit in der Heimat hatte dazu geführt, daß auch in Übersee die religiösen Reformen rücksichtslos betrieben wurden; das Unwesen der Thugs sowie die freiwilligen Witwenverbrennungen gehörten der Vergangenheit an. Den Indern gefiel es durchaus nicht, mitanzusehen, daß die Fremden ihre althergebrachten religiösen Gebräuche veränderten.
    Als die Engländer 1857 das neue Enfield-Gewehr einführten, kamen die Patronen für dieses Gewehr kräftig eingefettet aus der Fabrik. Die Soldaten mußten die Patronen aufbeißen, um das Pulver freizubekommen. Unter den Sepoy-Regimentern kam das Gerücht auf, das Schmierfett stamme von Schweinen und Kühen, und diese Patronen seien folglich ein Trick der Engländer, um die Sepoys zu verunreinigen und sie dazu zu bringen, ihre Kastenregeln zu verletzen.
    Die englischen Behörden reagierten schnell.
    Noch im Januar 1857 wurde angeordnet, daß in der Fabrik eingeschmierte Patronen nur noch an europäische Soldaten auszugeben seien; den Sepoys wurde gestattet, ihre Patronen selbst mit Pflanzenfett einzuschmieren. Diese vernünftige Anordnung kam jedoch zu spät, als daß sie die Entrüstung noch hätte dämpfen können. Im März wurden bei vereinzelten Zwischenfällen die ersten englischen Offiziere von Sepoys erschossen. Und im Mai brach ein allgemeiner Aufstand aus.
    Die berühmteste Episode des indischen Aufstands ereignete sich in Cawnpore, einer Stadt mit 150.000 Einwohnern am Ufer des Ganges. Aus heutiger Sicht ist die Belagerung Cawnpores ein schlagender Beweis für all das, was am viktorianischen England nobel und töricht war. Eintausend britische Staatsbürger, darunter dreihundert Frauen und Kinder, sahen sich achtzehn Tage lang unter Feuer genommen. Die Lebensbedingungen in der belagerten Stadt »sprachen allem Hohn, was bislang als menschenwürdig und anständig gegolten hatte, und schockierten vor allem das Schamgefühl der … weiblichen Natur«. In den ersten Tagen der Belagerung jedoch nahm das Leben noch einen verblüffend gewohnten Verlauf. Die Soldaten tranken Champagner und aßen Hering aus Dosen. Neben den Kanonen spielten Kinder. Es wurden Babies geboren, und es fand sogar eine Hochzeit
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