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Der Greif

Der Greif

Titel: Der Greif
Autoren: Gary Jennings
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Kaisers Avitus, im Jahre des Herrn 455 oder 456, ein oder zwei Jahre nach der Geburt des
    Mannes, der zum größten Staatsmann unserer Zeit werden sollte. Ich mag damals einige Tage, Wochen oder Monate alt gewesen sein, ich weiß es nicht. Bei mir befand sich weder eine Nachricht noch irgendein Hinweis auf meine Identität -
    bis auf den Buchstaben »Thorn«, der mit Kreide auf das Tuch aus grobem Hanf gemalt war, in das man mich
    gewickelt hatte.
    Das gotische Runenalphabet wird Futhark genannt, weil es mit den Buchstaben F, U und so weiter anfängt - wie das lateinische Alphabet mit A, B und C. Der dritte Buchstabe dieses Runenalphabets heißt Thorn; er steht für den Laut th.
    Wenn das Zeichen auf dem Wickeltuch überhaupt eine
    Bedeutung hatte, dann könnte es der Anfangsbuchstabe
    eines Namens wie Thrasamund oder Theudebert gewesen
    sein, was wiederum hieße, daß ich ein Kind aus Burgund oder Franken, ein Gepide, Thüringer, Schwabe oder
    Vandale oder der Angehörige irgendeines anderen Stammes germanischen Ursprungs gewesen wäre. Allerdings
    benutzen von allen Völkern, die das Gotische sprechen, nur noch die Ostgoten und die Westgoten die alten Runen für ihren Schriftverkehr. Also nahm der damalige Abt von St.
    Damian den mit Kreide geschriebenen Buchstaben als
    Beweis für meine Abstammung von diesen Goten. Aber
    anstatt mich auf einen gotischen Namen zu taufen, der mit th beginnt - er hätte mir dann entweder einen männlichen oder einen weiblichen Namen geben müssen -, nannte er mich
    einfach Thorn.
    Man könnte jetzt annehmen, ich hätte meiner Mutter, wer immer sie auch gewesen sein mag, nie verziehen, mich
    fremden Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu haben. Doch nein, ich verachte oder verurteile diese Frau keineswegs: Ich war ihr im Gegenteil stets dankbar für das, was sie getan hat - denn sonst wäre ich jetzt nicht am Leben.
    Hätte sie ihre Stammesgenossen nach meiner Geburt
    über mein Anderssein aufgeklärt, hätten diese natürlich sofort geglaubt, meine Mutter müsse ein so entartetes Kind an einem Sonntag oder sonst einem Feiertag empfangen
    haben (man wußte, daß Geschlechtsverkehr an solchen
    Tagen schlimme Folgen hatte) oder mit einem Skohl
    gezeugt haben, einem Waldgeist der alten Religion. Oder sie sei aus irgendeinem Grund Opfer eines msandjis geworden, eines bösen Fluchs, der von einer haljoruna ausgesprochen wird, wie wir sie auf Gotisch nennen, einer alten Hexe, die der alten Religion anhängt und die schrecklichen Runen Haijas, der alten Göttin der Unterwelt, schreiben und
    aussprechen kann.
    Nur wenn ein Volk durch Krieg, Krankheit, Hungersnot
    oder anderes Unheil stark geschwächt ist, läßt es manchmal verkrüppelte, schwächliche, geisteskranke und andere
    unerwünschte Kinder am Leben, zumindest eine Zeitlang, bis man sieht, ob sie der Gemeinschaft irgendwie nützen können. Wollen die Eltern das Kind aus Scham nicht
    aufziehen, bezahlen manchmal die Ältesten der
    Gemeinschaft eine gewisse Summe dafür, daß das
    mißgestaltete Kind bei kinderlosen und bedürftigen
    Stiefeltern aufwächst. Zum Zeitpunkt meiner Geburt jedoch herrschte Frieden in Burgund. Der kriegslüsterne Attila war unlängst gestorben, und der Rest seiner räuberischen
    Hunnen hatte sich wieder gen Osten nach Sarmatien
    zurückgezogen. Und in einem Land, das sich eines
    verhältnismäßigen Friedens und Wohlstands erfreut, wird ein Säugling, der verkrüppelt oder irgendwie mißgestaltet zur Welt kommt oder einfach nur ein Mädchen ist, zum Wohl des Volkes für »ungeboren geboren« erklärt und getötet oder dem Hungertod ausgesetzt.
    Meine Mutter erkannte also wahrscheinlich bald, daß sie einem Wesen das Leben geschenkt hatte, das noch weniger wert war als ein Mädchen und noch monströser als das Kind eines Skohl. Daß sie mich entgegen dem Brauch der
    gesamten zivilisierten Welt nicht im Wald aussetzte, den Wölfen zum Fraß, muß man ihr hoch anrechnen - das ist
    jedenfalls meine Meinung, schließlich verdanke ich diesem Umstand mein Leben. Meine Mutter hatte ein weiches Herz und legte mein Schicksal in die Hände der Brüder von St.
    Damian.
    Der damalige Abt und der Wundarzt des Klosters
    untersuchten den Findling natürlich. Sie fanden also bald heraus, welch ungewöhnliche Kreatur ich war; daher mein seltsam bedeutungsloser Taufname. Der Abt beschloß wie meine Mutter, mich leben zu lassen, vielleicht aus Neugier.
    Außerdem entschied er, mich als Jungen aufzuziehen. Er muß diese
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