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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Hickhack bildet eine angenehme Untermalung, und manchmal wird die Vorhersage für die Schifffahrt mit ihrer beruhigenden Litanei von Orten gesendet, an die er sich nie begeben muss. Die Flämische Kappe, sieben, Böen Stärke neun. In letzter Zeit hat Radio 4 ihn allerdings etwas im Stich gelassen, da die aktuelle Nachrichtenlage recht heikel ist. Abgesehen von verschiedenen anderen Klimasorgen hat die Welt das Stadium erreicht, das offenbar »Peak Oil« genannt wird – der Moment, an dem es sogar noch schwieriger sein wird, an Öl zu kommen, das somit noch teurer und schließlich unbezahlbar wird –, weswegen das derzeitige Treffen der G-was-auch-immer recht angespannt verläuft. Joe hofft, dass es nicht die Art von Angespanntheit ist, bei der am Ende irgendwer bombardiert wird. Wütende südamerikanische Diplomaten, verärgerte irische Fluglinienbosse und lächerlich selbstbewusste kanadische Ölindustrielle findet Joe nicht besonders beruhigend, und deshalb bleibt das Radio auf seinem Regal heute still.
    Überhaupt ist diese Tätigkeit eigentlich das Wichtigste, was er mit seinen Tagen anfängt. Es ist ein kleiner, messbarer Erfolg angesichts von rückläufigen Umsätzen, einem leeren Doppelbett und einer ganzen Reihe von Fähigkeiten, die vor hundert Jahren sehr gefragt gewesen wären, die heute aber wunderlich und sogar etwas erbärmlich wirken. In den letzten sechs Monaten hat er jeden Nachmittag einen ungleichen Kampf gegen sich selbst gekämpft, um nicht den Rollwagen mit seinen vielen Schlüsseln umzuwerfen und sie im ganzen Raum zu verstreuen. Sein besseres Ich hat nur deshalb den Sieg davongetragen, weil die Vorstellung, wie er sie reumütig und auf Knien wieder einsammelt, zerkratzte Standuhren ausbessert und sich flüsternd beim Geist seines Großvaters entschuldigt – und aus eigenartigen und ganz anderen Gründen auch bei seinem Vater –, mehr ist, als er ertragen kann.
    Die Glocken über der Tür läuten, und Joe blickt auf.
    Die Gestalt in der Tür ist groß. Sie muss es sein, denn ihr Kopf endet nicht weit unterhalb des Rahmens. Der helle Tag draußen lässt sie wie einen Scherenschnitt aussehen. Die Gestalt hat lange Arme und Beine und steckt in einem schwarzen, sperrigen Gewand, einem Kleid oder einer Robe. Miss Havisham . Er fragt sich, ob die Person wohl schlimm vernarbt ist. Er kann es nicht erkennen. Über dem Kopf trägt der Besucher ein Stück schwarzer Gaze oder Leinen, sodass das Gesicht nicht zu sehen ist. Der Stoff ist nicht gezurrt, er hängt einfach über dem Gesicht, sodass sich nur die Andeutung einer Nase abzeichnet. Davon abgesehen ist der Kopf so glatt und merkmalslos wie ein Ei. Ein Vampir. Ein Außerirdischer. Und dann, denkt Joe, noch schändlicher: Ein Selbstmordattentäter .
    Ein Gedanke, der sofort ein schlechtes Gewissen bei ihm auslöst. Er kommt sich albern vor, und das reißt ihn aus seiner Schockstarre. Ganz klar: Wenn der Selbstmordattentäter unwahrscheinlich ist, dann sind es die anderen Möglichkeiten erst recht.
    »Hallo«, sagt Joe. »Was kann ich für Sie tun?«
    »Im Moment nichts, danke.« Die Stimme klingt tief und kratzig, aber gedämpft – wie eine Platte, die auf einem der alten Holztrichter-Grammophone abgespielt wird, die Joe auf Lager hat. Er lehnt sich unwillkürlich vor, um besser hören zu können, weicht dann aber wieder zurück, als das schwarze Stoffgesicht ihm folgt, sich ihm entgegenduckt, als wolle die Gestalt ihm die Wange küssen, und ihm dabei zu schnell zu nahe kommt. »Darf ich mich umsehen?«
    »Oh, ja, bitte schön. Stöbern Sie. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie irgendetwas Bestimmtes interessiert. Ich habe einige sehr schöne Grammophone mit ganz besonderen Trichtern. Und eine ganz hervorragende Taschenuhr. Ich bin recht stolz auf die Restaurierung. Es ist ein wunderbares Stück.«
    Der Kopf unter dem Tuch nickt einmal zustimmend und dann noch einmal langsamer, mit tief gebeugtem Hals wie ein Schwan.
    »Verzeihen Sie, dass ich frage«, sagt Joe, als sein Besucher sich nicht von der Stelle bewegt, »aber ich habe noch niemals jemanden gesehen, der so gekleidet gewesen wäre.«
    »Ich befinde mich auf einer Seelenreise«, erwidert der andere, scheinbar ohne Anstoß genommen zu haben. »Meine Kleidung erinnert mich daran, dass sich Gottes Antlitz von uns abgewandt hat. Von der Welt. Sie wird von den Mitgliedern des Ordens von John, dem Werker, getragen, die man Ruskiniten nennt.« Er wartet, ob dies eine Reaktion auslöst. Da Joe aber
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