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Der Glanzrappe

Der Glanzrappe

Titel: Der Glanzrappe
Autoren: Unknown
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ein Kind lebte.
    Aber nichts davon war möglich. Seine Vergangenheit war ein Schattenspiel erinnerter Szenen. Er hatte keine Vergangenheit, er war zu jung. Alles, was er hatte, war die Vergangenheit eines Kindes: Hunger und Zufriedenheit, Hitze und Kälte, Naß und Trocken, gelbe Vierecke aus Licht auf dem Holzboden, Tiere als Spielgefährten, die Liebe einer Mutter und eines Vaters. Da gab es keine Gewissensbisse und auch nicht den Wunsch, das Leben anzuhalten und es noch mal anders zu gestalten. Mit solch wirren Gedanken und Gefühlen wollte er nichts zu tun haben. Das war der Gemütszustand, in dem er durch den Abenddunst nach Hause ritt, fort von dem Mann, den er unter dem aufgehenden Mond getötet hatte.
    In dieser Nacht kam sie barfuß ins Wohnzimmer, in dem er saß. Das einzige Licht war der schwache Schein der Talgkerze, die auf dem Eßtisch stand.
    »Was ist los mit dir?« fragte sie.
    »Kannst du nicht schlafen?« fragte er zurück.
    »Meine Augen wollen nicht zugehen«, sagte sie.
    Sie reckte sich, so weit ihr Körper sich dehnen ließ, dann stieß sie einen überraschten Laut aus und ließ locker. Sie kam auf ihn zu und klopfte ihm auffordernd auf die Knie, wollte sich darauf setzen. Sie sah aus wie ein Kind mit ihren langen Wimpern, die sich bei jedem Lidschlag miteinander verwoben und dann wieder voneinander lösten. Eingehend betrachtete sie die Innenfläche ihrer kleinen Hände und legte sie dann hilflos auf ihren runden Bauch.
    »Du solltest Strümpfe anziehen«, sagte er. »Es ist kalt in der Nacht.«
    »Das stimmt«, antwortete sie, und wie zur Bestätigung drückte eine Windböe einen Schwall Schnee gegen die Holzwände.
    »Das ist die Kälte, die Wärme hervorbringt«, erklärte e r, und sie erzählte ihm, daß seine Mutter ihr heute das gleiche gesagt hatte.
    Er fragte sich, wie es ihr jetzt wohl ging. Sie schien sich beruhigt zu haben. Würde er es ihr sagen? Mußte er es ihr nicht sagen?
    »Wie stellst du dir den Himmel vor?« fragte sie drängend. »Glaubst du, wir werden durch die Hoffnung erlöst?«
    »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich hab heute nacht keine solchen Antworten, und auch keine solchen Fragen.«
    »Betest du?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    »Also, falls du damit anfangen willst, tu es nicht an einem Ort, wo ich dich hören kann.«
    »Ich werd ’ s mir merken.«
    »Was ist los?« fragte sie. »Willst du ’ s mir nicht sagen?«
    »Ich hab ihn gesehen«, sagte er, und sie schaute ihn mit großen, klaren Augen an.
    »Du hast ihn gesehen?«
    »Er hat mir gesagt, die Frau ist tot.«
    »War es schlimm?«
    »Er hat nichts gesagt, und ich hab nicht gefragt.«
    »Wo hast du ihn gesehen?«
    »Dahinten auf dem Weg. Er ist auch tot.«
    Sie wandte den Blick ab, versenkte ihn in sich selbst. Er sah, wie ein innerer Sturm ihre Lider zucken ließ. Sie war voller Rätsel, die er nicht verstand.
    »Bist du sicher, daß er tot ist?«
    »Er ist tot«, wiederholte er mit fester Stimme und merkte doch, daß dieser Mann noch als Toter, leblos und bezwungen, sie verfolgen und nie mehr aus seinen Fängen lassen würde. Er fragte sich, ob es jemals genug Frieden geben konnte, damit die Wunde in ihr heilen würde.
    Der Druck im Zimmer nahm zu, als würde die Luft durch die Ritzen und Laibungen hereingepreßt. Der Ofen begann wieder zu bollern, als das Feuer heißer wurde und Erinnerungen an Gettysburg auftauchten, das Tor, durch das die Vergangenheit in die Gegenwart gelangen konnte. Das Metall des Ofens dehnte sich mit einem leisen Ticken aus, und ein Holzbalken in der Wand knarrte in der Verzapfung. Draußen tobte der Wind, und am Morgen würden die Felder schneeverweht sein, der Boden an manchen Stellen nackt und seltsam grasgrün und an anderen Stellen mannshoch von Schnee bedeckt.
    »Seine Seele war tiefschwarz«, sagte sie, als wäre ihr die Nachricht von seinem Tod schon vor langer Zeit überbracht worden.
    Sie streckte die Hand vor und öffnete den Mund, doch es kamen keine Worte. Seit Tagen kämpfte sie darum, die Stärke zu finden, mit der sich der Schmerz ertragen ließ. Sie versuchte verzweifelt, ihn zum Verstummen zu bringen. Schon seit Tagen spürte sie, wie sich die winzigen Knochen verschoben und neue Positionen einnahmen. Sie betete um Kraft, um viel Kraft, aber die hatte sich noch n icht eingestellt. Plötzlich stöhnte und schrie sie auf, als ihr Bein von einem Krampf geschüttelt wurde. Sie streckte das Bein in die Luft, bis sich die Muskeln, die unter der Haut zuckten,
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