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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry
Autoren: Paul Gallico
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kennenlemte, der sie heiraten wollte. Aber er wollte von dem Kind nichts wissen, und der Preis dafür, daß er sie zu seiner Ehefrau machte, war, daß sie sich von dem Jungen trennte. Pansy gab darauf sofort den damals drei Jahre alten Henry in eine Familie namens Gusset (die in Willis Gardens lebte und in der es schon sechs Kinder gab), heiratete ihren Geliebten und zog in eine andere Stadt.
    Drei Jahre lang zahlte Pansy pünktlich jede Woche das Pfund, das sie für des kleinen Henrys Unterhalt den Gussets zu zahlen versprochen hatte (wodurch ein Pfund für sie selber übrigblieb), und wenn Henry auch nicht gerade verwöhnt wurde, so hatte er es doch nicht viel schlechter als die Sprößlinge der Gussets. Aber eines Tages traf das Pfund nicht ein, und von da an kam es überhaupt nicht mehr. Pansy und ihr neuer Mann waren verschwunden und blieben unauffindbar. Die Gussets hatten eine Adresse des Vaters George Brown irgendwo in Alabama. Ein Brief, in dem sie das Geld von ihm forderten, kam mit dem Stempel «Adressat unbekannt» zurück. Den Gussets wurde klar, daß sie das Kind nun auf dem Buckel hatten, und von da an verschlechterte sich Henrys Lage.
    Die Nachbarschaft merkte bald, daß die Gussets, die sich sowieso keines guten Rufes erfreuten, es das Kind entgelten ließen. Der kleine Henry war zu einem Gegenstand tiefer Sorge für die beiden Witwen geworden, die neben den Gussets wohnten, aber besonders für Mrs. Harris, deren Herz das arme Waisenkind rührte und dessen schlimme Lage ihr Tag und Nacht keine Ruhe ließ.
    Wären die Gussets brutaler und grausamer zu dem kleinen Henry gewesen, dann hätte Mrs. Harris zusammen mit der Polizei drastisch dagegen einschreiten können. Aber das Ehepaar Gusset war dafür zu gerissen. Niemand wußte genau, wovon Mr. Gusset seine Familie ernährte, aber er arbeitete in Soho, manchmal die ganze Nacht hindurch, und alle waren einmütig der Ansicht, daß es eine etwas anrüchige Beschäftigung war.
    Nun, was es auch sein mochte, es war bekannt, daß die Gussets ängstlich darauf bedacht waren, die Aufmerksamkeit der Polizei nicht auf sich zu lenken, und darum, soweit es den kleinen Henry betraf, sich strikt an das Gesetz hielten. Sie wußten sehr wohl, daß die Polizei nur in Fällen äußerster und sichtbarer Grausamkeit zugunsten eines Kindes eingreifen konnte. Niemand vermochte aber zu behaupten, daß der Junge Hunger litt oder gequält wurde. Mrs. Harris wußte jedoch, sein Leben war eine Hölle knapper Rationen, Püffe, Schläge, Flüche, womit die Gussets sich für das Aufhören der Zahlungen rächten.
    Er war das Aschenbrödel und der Prügelknabe der schlampigen Familie, und jedes ihrer eigenen Kinder, zwei Mädchen und vier Jungen von drei bis zwölf Jahren, konnte ihn kneifen, treten und mißhandeln, ohne daß jemand sie dafür bestrafte. Aber das Schlimmste von allem war, daß das Kind ohne jede Liebe oder Zärtlichkeit aufwuchs. Im Gegenteil, es wurde gehaßt, und Mrs. Harris und Mrs. Butterfield fanden, das war das Allertraurigste.
    Mrs. Harris hatte selber viele Schläge aushalten müssen; in ihrer Welt war das die Regel, mit der man sich abzufinden hatte. Aber sie hatte ein warmes und mitfühlendes Wesen, hatte ihr eigenes Kind erfolgreich aufgezogen, und was sie von dem kleinen Jungen nebenan und der Behandlung, die man ihm angedeihen ließ, sah, begann zu einer wahren Folter für sie zu werden, zu etwas, das sie beständig verfolgte und an das sie fast immer denken mußte. Oft, wenn sie, wie es ihre Art war, froh und heiter mit nicht unterzukriegender guter Laune ihrer Arbeit nachging oder sich mit ihren Brotgebern und Freunden unterhielt, überfiel sie plötzlich der quälende Gedanke an die schlimme Lage des kleinen Henry. Dann versank sie in einen ihrer Tagträume, wie jenen, der sie vor einem Jahr veranlaßt hatte, zu dem großen Abenteuer ihres Lebens nach Paris aufzubrechen.
    Der neue Tagtraum nahm die Gestalt eines jener Kitschromane an, die Mrs. Harris gierig in den vielen Zeitschriften verschlang, die ihre Brotgeber ihr gaben, wenn sie selber sie ausgelesen hatten.
    Nach Mrs. Harris’ Meinung — und übertragen auf den Traum — war Pansy Cott, oder wie ihr neuer Name lauten mochte, der Bösewicht der Geschichte, der verschollene Flieger Brown der Held und der kleine Henry das Opfer. Von einem war Mrs. Harris felsenfest überzeugt, daß nämlich der Vater den Unterhalt des Kindes bezahlte und daß Pansy einfach das Geld einsteckte. Es war alles
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