Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry
Autoren: Paul Gallico
Vom Netzwerk:
die Wand. Noch ein anderer Laut drang in die Küche, in der die beiden Frauen saßen, ein dumpfer Schlag und dann ein Schmerzensgewimmer, woraufhin sofort der Rundfunk nebenan lauter gestellt wurde, so daß die Klänge der Gitarre und Kentucky Claibornes nasales Gegröle die Schreie übertönten.
    Die beiden Frauen erstarrten, und ihre Gesichter wurden grimmig und bekümmert zugleich.
    «Die Teufel», flüsterte Mrs. Harris. «Sie prügeln den kleinen Henry schon wieder.»
    «Ach, das arme Lämmchen», sagte Mrs. Butterfield, und dann: «Ich höre ihn gar nicht mehr.»
    «Sie haben den Rundfunk so laut gestellt, damit wir es nicht hören.» Mrs. Harris ging an eine Stelle der die Häuser trennenden Mauer, wo sie, weil es dort anscheinend einmal eine Durchstiegluke gegeben hatte, dünner war, und trommelte mit den Knöcheln dagegen. Fast unmittelbar darauf ertönte ein ebenso starkes Getrommel auf der anderer Seite.
    Mrs. Harris hielt ihren Mund dicht an die Wand und schrie: «Hören Sie auf, das Kind zu schlagen! Wollen Sie, daß ich die Polizei rufe?»
    Worauf klar und deutlich von drüben eine Männerstimme herüberschallte: «Waschen Sie sich erst einmal Ihre Ohren! Wer schlägt denn hier jemand?»
    Die beiden Frauen standen beklommen lauschend dicht an der Wand, aber keine weiteren Klagelaute waren zu vernehmen, und bald wurde auch der Rundfunk wieder leiser.
    «Die Teufel», zischte Mrs. Harris noch einmal. «Das Schlimme ist, daß sie ihn nicht so heftig schlagen, daß man Striemen sieht, sonst könnten wir den anrufen. Ich werde ihnen aber morgen früh gründlich Bescheid sagen.»
    Mrs. Butterfield sagte traurig: «Das wäre nicht gut, denn sie lassen’s dann nur an ihm aus. Gestern habe ich ihm ein Stück Kuchen gegeben, das ich noch vom Tee übrig hatte. Aber da stürzte sich die ganze Gusset-Brut auf ihn und riß es ihm weg, bevor er auch nur einen Bissen davon gegessen hatte.»
    Zwei Tränen der Enttäuschung und Wut erschienen plötzlich in Mrs. Harris’ blauen Augen, und sie erleichterte sich selbst durch eine Reihe sehr unfeiner und nicht für den Druck geeigneter Worte, mit denen sie die Familie Gusset von nebenan beschrieb.
    Mrs. Butterfield klopfte ihrer Freundin auf die Schulter und sagte: «Nun, nun, Liebe, reg dich nicht so auf. Es ist eine Schande, aber was können wir dagegen tun?»
    «Wir können etwas tun», erwiderte Mrs. Harris leidenschaftlich. Dann wiederholte sie: «Ja, wir können etwas tun. Ich kann das nicht aushalten. Er ist ein so lieber kleiner Kerl.» Ihre Augen funkelten. «Ich wette, wenn ich nach Amerika führe, würde ich seinen Vater schnell finden. Irgendwo muß er doch schließlich sein, und sein Herz verzehrt sich sicher nach seinem Kleinen.»
    Mrs. Butterfield machte ein entsetztes Gesicht. Ihr Doppelkinn begann zu beben, und ihre Lippen fingen an zu zittern.
    «Ada», stammelte sie, «du denkst doch nicht daran, nach Amerika zu fahren?» Sie hatte es noch frisch im Gedächtnis, daß Mrs. Harris verkündet hatte, sie begehre nichts mehr in der Welt als ein Kleid von Dior, und daß sie dafür zwei Jahre lang geknausert und gespart hatte. Dann war sie nach Paris geflogen und triumphierend mit dem Kleid zurückgekehrt.
    Zu Mrs. Butterfields großer Erleichterung waren ihrer Freundin aber Grenzen gesetzt, denn Mrs. Harris jammerte: «Wie kann ich das? Aber es bricht mir das Herz. Ich kann es nicht ertragen, zusehen zu müssen, wie ein Kind mißhandelt wird. Er ist so dürr und mager, daß er nicht einmal auf einem Fleischpolster sitzen kann.»
    Alle in Willis Garden kannten die Geschichte des kleinen Henry Brown und der Gussets. Eine Tragödie der Nachkriegszeit, wie es sie nur leider allzu oft gab.
    Im Jahre 1950 hatte George Brown, ein auf irgendeinem amerikanischen Luftstützpunkt in England stationierter Flieger, eine Kellnerin aus der in der Nähe gelegenen Stadt geheiratet, ein Mädchen namens Pansy Cott, und sie hatten einen Sohn bekommen, den sie Henry tauften.
    Als George Brown seinen Militärdienst beendet hatte und in die Vereinigten Staaten zurückkehren sollte, weigerte sich die Frau, ihn zu begleiten. Sie blieb mit dem Kind in England und verlangte von ihrem Mann, daß er sie unterhielt. Brown schickte ihr aus Amerika für das Kind wöchentlich einen Dollarbetrag in Höhe von zwei Pfund und ließ sich von seiner Frau scheiden.
    Pansy und Henry zogen nach London, wo Pansy eine Stellung bekam und einen anderen Mann
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher