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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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einmal und drohe der Dame, ich will sie zurückdrängen, c 3 - d 5. Und dann passiert es, es passiert, und ich kann es nicht ungeschehen machen: die Dame rückt vor und holt einen Bauern, f 6 schlägt f 2. Die schwarze Königin steht dicht vor mir und droht mit Schach, sie duftet nach Pflaumen und Kirschen, aber ich kann sie nicht berühren, das ist das Fatale. Ich habe den schlimmsten Fehler begangen, der einem Schachspieler passieren kann, ich habe nicht über meine eigene Nase hinausgedacht und die früheren Züge des Spiels nicht im Gedächtnis behalten. Ich habe vergessen, daß die schwarze Königin eine Vergangenheit hat, sie ist von edler Herkunft, ihr Haus ist voller Seide, und jetzt steht ein geheimer Läufer diagonal zu c 5, er ist derjenige, der im Augenblick der Wahrheit die Dame vor der Eroberung schützt. Ich bin schachmatt!
    Das war eine kurze Partie, viel zu kurz. Ich bin von der schwarzen Königin an die Wand gedrängt worden und habe das Spiel verloren. Ich bin schuldig, nicht vorsätzlich, aber aufgrund grober Fahrlässigkeit. Ich schäme mich. Das ist das Fazit, ich schäme mich. Ausgerechnet ich - der ich immer behauptet habe, die Leute besäßen kein Schamgefühl mehr -, ich selbst habe die schändlichste Untat begangen, die ein Mann überhaupt begehen kann.
    Ich habe mich hingelegt und zwei Stunden schlafen können. Als ich die Augen aufschlug, hatte ich das Gefühl, zum allerersten oder allerletzten Tag in meinem Leben zu erwachen. Ich habe so schön von einem kleinen Mädchen geträumt, das mit einem großen Strauß Mariengoldschuhe auf mich zukam. Es war am Sognsvann, oder vielleicht auch in Schweden, an einem der großen Seen. Aber es war nur ein Traum.
    Ich sitze jetzt wieder am Schreibtisch, es ist neun Uhr. Ich habe meine Habseligkeiten gepackt, gleich werde ich unten meine Hotelrechnung bezahlen. Wenn ich meine Tasche nicht in Beates Zimmer abstellen darf, werde ich um Erlaubnis bitten, sie auf der Polizeiwache zu lassen, im Hotel bleibt sie jedenfalls nicht. Ich will keiner sein, der zurückkommt, um etwas zu holen.
    Ich habe das Gefühl, etwas ganz Wichtiges vergessen zu haben. Dann fällt es mir ein: wann und wo werde ich Beate treffen? Das haben wir nicht verabredet. Und ich muß sehen, daß ich von hier fortkomme, ich muß mich aus meinem eigenen Bewußtsein retten.
    Den Laptop lasse ich im Zimmer stehen. Ich werde ihn dort vergessen oder hinterlassen, darüber können die Leute sich gern den Kopf zerbrechen. Ich habe alle Dateien gelöscht, die entfernt werden sollen; was erhalten bleiben soll, ist noch vorhanden. Es ist viel, beeindruckend viel. Es gibt noch mehr als genug brauchbare Synopsen und Ideen, sie sollten für einige Dutzend Lebenswerke reichen, vielleicht auch für mehr. Ich könnte einen Zettel am Laptop befestigen und darauf schreiben, daß er allen Autoren auf der Welt gehört. Bitte, greift zu, könnte ich schreiben, es ist alles gratis. Sie können damit machen, was sie wollen, von mir aus sollen sie weitermachen, von mir aus können sie gern das Tanzbein schwingen.
    Doch dann überlege ich mir die Sache anders. Auf einen gelben Zettel schreibe ich FÜR BEATE und klebe ihn am Laptop fest. Ich will nur noch als normaler Mensch leben dürfen. Ich will nur noch Vögel und Bäume sehen und Kinder lachen hören.
    Jetzt wird an die Tür geklopft. Moment noch, sage ich, dann höre ich Beates Stimme. Sie sagt, sie wartet unten im Klostergarten auf mich.
    Es ist der erste oder der letzte Tag in meinem Leben, ich weiß nicht, ob ich zu hoffen wage, daß das Wunderbare geschieht. Ich speichere und beende das Programm. Alles ist bereit. Bereit zum entscheidenden Schritt.

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