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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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weniger, sie sind die eigentliche Summe des Daseins. Das eigentliche Wesen des Daseins ist ein Quadrat aus neunundvierzig roten und grünen Keramikfliesen im Zimmer Nr. 15 im Hotel Luna Convento, Amalfi. Ich werfe einen Blick auf den Garderobenständer, doch wenn ich dann den Boden anschaue, sehe ich das Quadrat wieder, es hat sich um keinen Millimeter verschoben, das liegt natürlich daran, daß seine eigentliche Form in meinen Gedanken festgehalten wird, sie liegt nicht auf dem Boden, sondern wird von dem erschaffen, der seinen Blick wandern läßt. Wenn ich jemals ins Gefängnis komme, werde ich mich niemals langweilen, solange ich an dieses Quadrat aus neunundvierzig Bodenfliesen zurückdenken kann. Ich habe die Welt gesehen. Wenn ich eine unsichtbare Diagonale von oben rechts, also vom einen Ende von Fliese Nr. 7, nach unten links, also zu Fliese Nr. 43, ziehe, erhalte ich wieder zwei rechtwinklige Dreiecke, das sagte ich schon, denn es ist genauso, als ob ich eine einzelne Fliese teilte, ein Quadrat ist ein Quadrat und bleibt es. Die Summe der Quadrate über den beiden Katheten ist achtundneunzig Fliesenlängen, aber die Quadratwurzel aus 98 kann ich nicht berechnen, nicht im Kopf. Ich habe den Taschenrechner aus meinem Fliegerkoffer geholt: die Quadratwurzel von 98 ist 9,8994949. Die Hypotenuse der beiden rechtwinkligen Dreiecke ist also 9,8994949 Fliesenlängen. Das wissen wir nun, ich finde es nur seltsam, daß die Diagonale aus sieben mal sieben Fliesen eine derart häßliche Zahl ergeben kann, man muß das fast als Angriff aus dem Hinterhalt bezeichnen, aber das Chaos hat den Kosmos immer schon von innen her zerstört. Außerdem stimmt hier etwas nicht, etwas scheint zwischen den Fliesen zu spuken, und was hier spukt, ist selbstverständlich der Geist, der über den Fliesen schwebt; dennoch kann ich neunundvierzig Fliesen nicht durch zwei teilen, wie kann dann die eine Hälfte aus roten und die andere aus grünen Fliesen bestehen? Ich bin verwirrt und zweifle fast schon an meinem Verstand.
    Ich werde von einer weiteren höheren Ordnung gerettet, einem Quadrat von vierundsechzig Fliesen, ich mußte nur Ibsens Schreibtisch kurz verrücken, das war schwer und machte einen Höllenlärm - mitten in der Nacht. Acht mal acht ist vierundsechzig, das steht wirklich fest, und in diesem Quadrat befinden sich zweiunddreißig rote und zweiunddreißig grüne Fliesen, damit habe ich, ohne einen Finger zu rühren, die perfekte Harmonie hergestellt, ich habe das totale Gleichgewicht zwischen Rot und Grün, Grün und Rot zurückerlangt. Jetzt kann ich außerdem Schach spielen, vielleicht war das die ganze Zeit der Sinn der Sache: daß ich Schach spielen kann. Ich bin ein guter Schachspieler und kann auch ohne Figuren spielen, das konnte ich schon immer: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. und 8. Reihe. Ich stelle die weißen Figuren, die keine Bauern sind, in die erste Reihe: a, b, c, d, e, f, g und h. Das ist leicht. Ich habe das ganze Brett im Blick, ich sehe alle Felder auf einmal. Ich stelle eine Schachfigur nach der anderen auf das Brett, bald sehe ich sie alle deutlich vor mir, sie sind aus schwarzem und weißem Alabaster und ziemlich groß, die größten über dreißig Zentimeter hoch: die Könige und die Damen.
    Ich bin ein weißer König und stehe in der ersten Reihe, mir ist also ein roter Sitz zugewiesen worden, auf der Eintrittskarte steht e 1, das ist ein schöner Platz, es ist die erste Reihe vor dem Orchester, das kann ich ja wohl verlangen. Auf der großen Bühne vor mir stehen alle anderen Figuren, ich ärgere mich nur ein wenig über die dichte Reihe meiner eigenen Bauern, sie stehen viel zu dicht vor mir und riechen schlecht, aber weit hinten links kann ich die schwarze Dame ahnen, sie steht auf d 8 , auch sie auf einer roten Fliese, ein schöner Platz, denke ich, ich winke ihr mit der linken Hand, sie winkt diskret zurück, sie trägt eine Krone auf dem Kopf, die Krone ist von reinstem, strahlendem Gold.
    Die Figuren haben ihre Plätze eingenommen, das Spiel beginnt. Ich beginne mit einer normalen Königseröffnung, e 2 - e 4, sie antwortet ebenso höfisch mit e 7 - e 5. Ich verschiebe den Springer, um den Bauern zu beschützen, b 1 - c 3, und sie macht einen überraschenden Zug, setzt die Dame, sich selbst, von d 8 auf f 6 , aber warum tut sie das? Sie greift an, sie ist kühn. Ich schiebe den Bauern von d 2 auf d 3, sie antwortet mit dem Läufer: f 8 - c 5. Was hat die Dame nur vor? Ich verschiebe den Springer noch
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