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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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sie jetzt anschaute, kam sie mir traurig vor. Ich versuchte sie aufzumuntern, schließlich nehme das Märchen doch ein gutes Ende, aber es half nichts. Bevor ich zu erzählen begonnen hatte, hatte sie meine Hand gehalten, dann aber hatte sie sie rasch zurückgezogen. Es überraschte mich, daß ein Märchen ihr dermaßen zusetzen konnte.
    Sie war verschlossen und preßte die Lippen zusammen, als sie endlich nach meinem Alter fragte. Ich sagte, achtundvierzig. Genau achtundvierzig? fragte sie kühl. Ich konnte nicht begreifen, welche Rolle einige Monate spielen sollten, aber vielleicht glaubte sie an die Astrologie. Ich sagte, ich sei Löwe und würde Ende Juli achtundvierzig.
    Wir gingen zur Stadt hinunter. Sie sah resigniert aus, fast verletzt. Dachtest du, ich sei jünger? fragte ich. Sie schnaubte nur und schüttelte den Kopf. Sie sagte, sie sei neunundzwanzig, und ich dachte daran, daß Maria im Sommer 71 genauso alt gewesen war. Die Zeit steht still, dachte ich, jetzt ist Maria wieder da. Es war eine berückende Vorstellung.
    Beates Stimmung war vollständig umgeschlagen. Sie braucht nicht zu irgendwelchen Verschwörern zu gehören, dachte ich, von der Spinne kann sie trotzdem gehört haben. Sie hat schließlich auch einen Fuß in der Buchbranche, im Tal hat sie mir anvertraut, daß sie selber schreibt. Wenn sie aber von der Spinne gehört hat, muß das nichts Schmeichelhaftes gewesen sein. Sie konnte sogar die Tochter eines Autors sein, dem ich geholfen hatte; mir fiel ein, daß einer von ihnen in München lebte, ein Mann von Mitte Fünfzig, über dessen Familie ich rein gar nichts wußte.
    Die Lage hatte sich zugespitzt. Ich wußte nicht, was los war, und glaubte nur, alles klären zu können, wenn ich erst wußte, was sie so quälte. Ich hatte schon ganz andere Dinge in Ordnung gebracht. Sie hatte erzählt, daß erst vor wenigen Monaten ihre Mutter gestorben war und daß sie sehr an ihr gehangen hatte. Da war es kein Wunder, daß ihre Stimmung schwankte. Ich wußte, wie das war.
    Wir kamen an einem Hof mit zwei kläffenden Kötern vorbei, in einem schmutzigen Käfig watschelten verdreckte Gänse auf und ab. Ehe wir die letzten Treppen zur Hauptstraße hinunterstiegen, blieb Beate stehen und sah mich an. Sie sagte: Dieses Märchen hättest du nicht erzählen dürfen! Dann brach sie in Tränen aus. Ich versuchte sie zu trösten, aber sie schob mich weg.
    War es so traurig? fragte ich.
    Sie wiederholte: Dieses Märchen hättest du mir nicht erzählen dürfen. Das war dumm, ganz entsetzlich dumm.
    Sie sah mich an, schlug die Augen nieder und schaute dann verstohlen wieder zu mir. Sie sah mich an, als hätte sie ein Gespenst vor sich. Sie hatte Angst, und diese Angst hatte ich ihr eingejagt.
    Ich begriff nichts. Ich war gern mit Frauen zusammen, die ich nicht verstand, aber das hier machte keinen Spaß. Ich hatte offenbar einen wunden Punkt getroffen. Vielleicht identifizierte sie sich mit der Tochter des Zirkusdirektors, aber ich wußte doch nichts über ihre Vergangenheit. Eine Erzählung hat selten eine so große Wirkung, aber hinter uns lag ein langer Tag, ein Tag mit vielen starken Eindrücken.
    In ihren Augen funkelten Blitze, als sie sagte: Diese Begegnung müssen wir vergessen. Wir können nie darüber sprechen, mit keinem Menschen.
    Ich begriff diesen leidenschaftlichen Ausbruch nicht. Anfälle von Reue nach einem Schäferstündchen waren mir nicht unbekannt, sie kommen bei Frauen öfter vor; aber das hier war etwas anderes. Beate war keine, die sich schämte, weil sie sich von einem Gewitter hatte mitreißen lassen. Und wenn sie etwas bereute, hätte sie geschwiegen, aber niemals ihre schlechte Laune an mir ausgelassen. Wer mir in Amalfi begegnet war, war nicht Mary Ann MacKenzie.
    Sie wiederholte schluchzend: Wir müssen das alles vergessen. Begreifst du? Und fügte hinzu: Wir müssen einander versprechen, daß wir uns nie, nie wiedersehen!
    Als ich keine Antwort gab, fragte sie: Begreifst du gar nichts? Begreifst du nicht, daß du ein Ungeheuer bist?
    Jetzt ergriff auch mich Angst. Vielleicht war ich ein Ungeheuer, diese Vorstellung war mir nicht ganz fremd. Ich hatte mir schon öfter überlegt, ob meine vielen Synopsen und Familiengeschichten nicht einfach meinem eigenen makabren Tango mit einer verängstigten Seele entspringen könnten.
    Es gab etwas, woran ich mich nicht erinnern konnte, etwas Großes und Schweres, das ich vergessen hatte .
    Sie weinte nicht mehr. Beate war tapfer, sie war keine, die
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