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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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auf dem laufenden bleiben wolle. Und dabei besonders die Kulturseiten erwähnt. Aber ihre Reaktion brauchte nicht zwangsläufig damit zusammenzuhängen, daß sie von einer »Spinne« gehört hatte. Sie hatte genug andere Gründe für eine Reaktion, ich hatte schließlich ein reichlich bizarres Geschäft beschrieben.
    Ich redete ein wenig über Phantasie im allgemeinen, dann über das Autorenhilfswerk. Ab und zu schüttelte sie den Kopf, sie schien immer nachdenklicher zu werden. Ich sagte, ich würde mich freuen, wenn sie etwas lesen könnte, das ich während der vergangenen Tage im Hotel geschrieben hätte, ich könne es gern für sie ins Deutsche übersetzen. Ich wollte vor Beate keine Geheimnisse haben, das ewige Sich-Verstellen mußte ein Ende haben. Ich dachte wieder, daß wir zusammen auf Reisen gehen und uns in einem anderen Erdteil niederlassen könnten, vielleicht hatten wir beide einen Grund zur Flucht, auch, wenn sie schon ihren Sommer in Süditalien geplant hatte. Ich hatte mich zu dem Versuch entschlossen, den Rest meines Lebens als anständiger Mensch zu verbringen. Ich hatte nur ein Leben, jetzt wollte ich den Rest dieses Lebens retten.
    Es war sechs Uhr. Ich war nach allem ein wenig wacklig auf den Beinen, und wir beschlossen, uns auf eine Klippe zu setzen und den Sonnenuntergang zu betrachten. Beate sagte nicht viel, ich dagegen setzte zu einem langen Märchen an. Ich sah sie nicht oft an, während ich erzählte, vielleicht, weil das Märchen gerade jetzt entstand. Ich kann mich nicht an alle Details erinnern, aber die Struktur der Geschichte war ungefähr diese:
     
    I n Ulm an der Donau trat vor langer Zeit ein großer Zirkus auf. Der Zirkusdirektor war ein stattlicher Mann, der die schöne Trapezkünstlerin Terry über alles liebte. Sie heirateten, und im folgenden Jahr gebar sie ihm eine Tochter, die den Namen Panina Manina erhielt. Die kleine Familie lebte glücklich in einem rosa Zirkuswagen, aber das Glück war nicht von Dauer, denn schon ein Jahr nach der Geburt des Kindes stürzte Terry vom Trapez und war auf der Stelle tot. Der Zirkusdirektor kam nie über den Verlust seiner Frau hinweg und liebte seine Tochter mit jedem Jahr mehr. Erfreute sich, daß er wenigstens ein Kind von der so jählings verlorenen Terry hatte. Und die Erinnerung an seine Frau blieb lebendig: mit jedem Tag und jeder Woche wurde die Tochter ihrer Mutter ähnlicher. Schon mit anderthalb Jahren saß sie jeden Tag auf einem der besten Plätze im Zirkuszelt und sah sich die Vorstellung an. In den Pausen brachten ihr die Clowns Zuckerwatte, und sie war noch keine drei, als sie ganz allein ihren Platz finden konnte. Publikum und Zirkusartisten bezeichneten sie bald als Maskottchen des Zirkus, und es kam vor, daß Zirkusbesucher eine zweite Vorstellung besuchten, nur um Panina Manina zu sehen; denn sie war jeden Abend ein neues Erlebnis - es ließ sich nie voraussagen, auf welche neuen Ideen sie kommen würde. So bekam das Publikum immer zwei Vorstellungen zum Preis von einer - die eigentliche Vorstellung und Panina Manina. Nicht selten kletterte die Kleine über die Brüstung in die Manege und wirkte an der Vorstellung mit, das durfte sie, denn dem Zirkusdirektor tat das mutterlose Kind so leid, daß er ihr alle Freude gönnte, die sie bekommen konnte. Ihre Auftritte geschahen immer spontan: von einer Sekunde auf die andere machte das kleine Wesen bei einer Clownsnummer mit. Sie konnte aber auch zwischen zwei Nummern in die Manege springen und ihre eigene kleine Vorstellung geben, vielleicht mit einem von den Seelöwen geliehenen Ball, mit zwei Kegeln, die den Jongleuren gehörten, oder einem Reifen, einem kleinen Trampolin oder einer witzigen Wasserpistole, die sie im Requisitenlager gefunden hatte. Panina Manina erntete stürmischen Applaus für ihre Auftritte, und das Publikum fieberte ihnen bald mehr entgegen als denen, über die man im gedruckten Programmheft lesen konnte.
    Nur der russische Clown Pjotr Iljitsch ärgerte sich darüber. Er wollte nicht, daß Panina Manina sich in seine Nummer einmischte, und noch mehr mißfiel es ihm, daß sie fast immer den größeren Applaus einheimste. Er beschloß, der Sache ein Ende zu machen, und entführte sie eines Tages in der Pause der Abendvorstellung. Wie immer war Panina Manina zu dem Clown gegangen, der vor dem Zelt Zuckerwatte verkaufte, aber der hatte sich zur Verwirklichung seines bösen Plans mit einer Russin zusammengetan, die zufällig in der Stadt zu Besuch war. Sie
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