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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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einigen wilden Studentenjahren lernte Carsten Kristine kennen, der von nun an fast seine gesamte Aufmerksamkeit galt. Nur zweimal im Laufe der folgenden Jahre rief er bei Morten und Malene an, beide Male meldete sich Morten. Eins standfest: Carsten würde seinen Vetter nie wieder um Geld bitten. Trotzdem brachte die Post zweimal einen Scheck von ihm, und bei seiner Heirat mit Kristine erhielt Carsten von Morten und Malene, Maren und Mathilde fünftausend Kronen. Doch das konnte Carstens Erbitterung über seinen biologischen Vater nicht mildern; bei der Trauung nahm er Kristines Nachnamen an. Ihre Familie hatte ihn schließlich warm und herzlich aufgenommen.
    Carsten liebte seine Kristine, und seit er sie kennengelernt hatte, fehlten ihm andere Bindungen nicht mehr. Doch das Schicksal leitet die Willigen und reißt die mit, die sich wehren: Carsten hatte im Nacken immer ein häßliches Muttermal gehabt; als es plötzlich anfing zu bluten, verlangte Kristine eine ärztliche Untersuchung. Ihr Hausarzt schnitt das Muttermal heraus und schickte es routinemäßig zur Analyse ins Krankenhaus von Åarhus. Das Fatale war, daß die Untersuchungsergebnisse dem Arzt niemals zurückgesandt wurden. Als Wochen und Monate ins Land gingen und sie von Arzt oder Krankenhaus nichts hörten, dachten Carsten und Kristine nicht mehr an das Muttermal. Im Frühjahr aber wurde Carsten krank, es wurde Krebs diagnostiziert, der bereits gestreut hatte, und erst der Krebs wurde mit einer Gewebeprobe in Verbindung gebracht, die einige Monate zuvor ans Krankenhaus geschickt worden war.
    Im Krankenhaus wurde bestätigt, daß die Probe eingetroffen war und die Analyse ein bösartiges Melanom ergeben hatte; es blieb jedoch ein Rätsel, warum niemand Carstens Hausarzt über diesen Befund informiert hatte. Die formelle Verantwortung lag bei Oberarzt Morten Kjærgaard, doch der hatte angeblich mit der Analyse nichts zu tun gehabt, vermutlich hatte sich jemand im Labor die Unachtsamkeit zuschulden kommen lassen . Die Zeitung Åarhus Stiftstidende brachte eine kurze Notiz über den »Oberarzt, der nicht informiert worden war« und deshalb »die Chance verpaßt hatte, seinem eigenen Vetter das Leben zu retten«. Der Fall geriet jedoch bald in Vergessenheit.
    Carsten lebte danach nur noch wenige Wochen. Er lag zumeist zu Hause, Kristine und ihre Eltern pflegten ihn, so gut sie konnten. Unschätzbare Unterstützung kam außerdem von einer Krankenschwester, die täglich bei dem Patienten vorbeischaute. Sie hieß Lotte. Als Lotte erfuhr, wo genau das häßliche Muttermal gesessen hatte, schlug sie Carstens Geburtsdatum nach. Das war nur wenige Tage vor seinem Tod, und von Stund an saß Lotte ununterbrochen an seinem Bett und streichelte zärtlich seine Hände. Als Carsten zum letzten Mal die Augen aufschlug und Lotte und Kristine ansah, hörten sie ihn sagen: Für diesmal ist das Thema erledigt.
     
    Ich hielt Beate im Arm und brauchte fast eine Stunde für Carstens Geschichte. Sie sagte kein Wort, ich konnte kaum ihren Atem hören. Erst, als ich alles erzählt hatte, schaute sie zu mir hoch und sagte, es sei eine wunderbare Geschichte, doch sie sei auch entsetzlich, sie sei wunderbar und entsetzlich zugleich. Beate war eine dankbare Zuhörerin. Aber wenn ich eine durchdachte Synopsis hatte, war es auch nicht schwer, die Geschichte auszuformen, schon gar nicht, wenn ich mit Beate in den Ruinen einer alten Papiermühle saß und aus einem wilden Gewitter Kraft und Dramatik saugen konnte. Sie versicherte, daß es ein großartiger Roman werden würde, und ganz sicher werde er ins Deutsche übersetzt. Sie freue sich schon darauf, ihn zu lesen.
    Es blitzte und donnerte noch immer und regnete heftig wie zuvor, doch meine Geschichte hallte noch so stark in uns nach, daß ich mit keiner neuen beginnen konnte. Ich konnte auch kaum an zwei Romanen zugleich arbeiten, das hätte nicht überzeugend geklungen.
    Wir redeten über einige Details in der Geschichte. Ich versuchte ihr den Eindruck zu vermitteln, daß sie mir wertvolle Ratschläge erteilte. Wenn ich den Roman wirklich hätte schreiben wollen, hätte ich mich zweifellos nach ihren Vorschlägen gerichtet. Sie schmiegte sich dichter an mich, schob ihre Hand in meine und küßte meinen Hals. Vielleicht war ich derjenige, dessen Küsse zuerst leidenschaftlicher wurden, aber sie ließ mich auch gewähren. Seien wir ein wenig verrucht, flüsterte sie, dann zog sie sich aus. Im blauen Gewitterlicht sah sie aus wie ein Akt
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