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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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Ein kleiner Junge ruft mir in einer Sprache zu, die ich nicht mehr verstehe.
    Der kleine Mann fragt: Aber erinnerst du dich an etwas?
    Es ist wie ein Film, sage ich. Es ist wie einige wenige Meter Filmrolle.
    Dann müssen wir die Synopsis zu diesem Filmstreifen schreiben , sagt Meter.
    Ich schlucke. Aber das wird dann wirklich die allerletzte Synopsis, denke ich, als ich sie einzutippen beginne:
     
    O slo um die Mitte der fünfziger Jahre, Herbst. Der drei Jahre alte Petter wohnt mit seinen Eltern in einem modernen Wohnblock. Der Vater arbeitet im Straßenbahndepot in Grefsen, die Mutter hat eine Halbtagsstelle im Rathaus.
    Bilder einer Familienidylle, zwölf oder fünfzehn Sekunden eines Picknicks am Sognsvann, ein Sonntagsausflug zur Ullevalseter und so weiter. Bilder der Eltern, die den neuen Nachbarn im Erdgeschoß begrüßen. Er hat einen Labrador.
    Früh am Morgen: Vater und Petter stehen im Mantel in der Diele. Die Mutter (im Morgenrock) kommt aus der Küche und hat Butterbrotpakete für beide gemacht. Sie steckt Petter Brote in einen kleinen blauen Kinderrucksack, den er bereits geschultert hat und den sie jetzt zuschnürt. Sie albert mit Petter herum, geht in die Hocke und küßt ihn auf die Wange. Dann richtet sie sich wieder auf, küßt den Vater flüchtig auf den Mund und wünscht ihm einen schönen Tag.
    Vater und Petter sitzen im Bus. Petter fragt, warum er in den Kindergarten gehen soll. Der Vater antwortet, daß er dafür sorgen muß, daß alle Straßenbahnen in gutem Zustand sind. Und die Mutter müsse in den Waschsalon und Wäsche waschen, danach wolle sie noch zur Friseuse. Petter sagt, er könne doch mit der Mutter in die Wäscherei und zur Friseuse gehen, aber der Vater sagt, auch Petter müsse zur Arbeit. Petters Arbeit bestehe darin, im Kindergarten zu sein und mit den anderen Kindern zu spielen. Dann wird der Vater nachdenklich und sagt seinem Sohn, das Spielen der Kinder sei ebenso wichtig wie die Arbeit der Erwachsenen.
    Sie kommen zum Kindergarten, doch dort hängt ein Zettel mit der Nachricht, daß heute geschlossen ist, weil beide Kindergärtnerinnen krank sind. Der Vater liest Petter den Zettel vor. Er nimmt ihn an der Hand und sagt, er werde ihn nach Hause zur Mutter bringen. Sie schauen bei einem Feinkostladen vorbei und kaufen frische Brötchen, Cervelatwurst in Scheiben (die in Butterbrotpapier gewickelt werden), ein Glas saure Gurken und hundert Gramm italienischen Salat. Vater sagt, er habe gar keine Zeit, diese guten Sachen zu essen, die seien für Petter und die Mutter bestimmt.
    Vater und Petter sitzen wieder im Bus. Beide sind gutgelaunt, Petter preßt sein Gesicht gegen die Fensterscheibe und sieht sich die vielen Menschen, die Autos (mindestens ein Taxi), die Fahrräder und eine Dampfwalze an (also die große Welt außerhalb der Kernfamilie).
    Als sie von der Bushaltestelle nach Hause gehen, pfeift Vater das Stück »Smile« aus dem Chaplin-Film Moderne Zeiten.
    Sie gehen die Treppe hoch. Petter freut sich auf die Mutter. Vater schließt die Wohnungstür auf. Mutter kommt aus dem Wohnzimmer gestürzt, sie ist außer sich, sie hält den Morgenrock vor sich und ist fast splitternackt. Panik.
    Petters BLICKWINKEL, aus einem Meter Höhe: Vater und Mutter heulen und schreien und werfen einander Gemeinheiten an den Kopf. Petter schreit auch, er schreit, um die Erwachsenen zu übertönen. Er flieht ins Wohnzimmer, wo der neue Nachbar vom Teppich aufspringt, auch er ist nackt - seine Kleider liegen auf dem persischen Puff vor einem Teakregal mit einem alten Radio (Radionette) - und bedeckt sich mit einem Notenheft (zum Beispiel mit der Anthologie Opera Without Words).
    Stummfilmhafte Szene mit viel Geschrei (Petters BLICKWINKEL), aber ohne hörbaren Dialog. Mutter und Vater stehen jetzt im Wohnzimmer. Der Vater schlägt Mutter so hart ins Gesicht, daß sie umkippt und mit dem Kopf gegen ein altes weißes Klavier schlägt. Sie blutet aus dem Mund. Der Nachbar will eingreifen, aber Vater reißt das Telefon aus der Wand und wirft es ihm ins Gesicht, der Nachbar preßt die Hand auf seine Nase. Alle heulen und schreien, Petter auch. Zu verstehen sind nur Beschimpfungen, darunter einige äußerst üble. Petter versucht, die Erwachsenen zu übertreffen, indem er die schlimmsten Wörter schreit, die er kennt.
    Petter fängt an zu weinen. Er rennt ins Treppenhaus und ins Erdgeschoß hinunter. Er läuft auf den Hof und drückt auf alle Klingeln. Dabei schreit er: STREIFENWAGEN, FEUERWEHRAUTO,
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