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Der Geschichtenverkäufer

Der Geschichtenverkäufer

Titel: Der Geschichtenverkäufer
Autoren: Jostein Gaarder
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KRANKENWAGEN! STREIFENWAGEN, FEUERWEHRAUTO, KRANKENWAGEN!
    Er läuft wieder ins Treppenhaus und jagt hinunter in den Keller. Über der Tür zum Keller steht in grünen, leuchtenden Buchstaben LUFTSCHUTZRAUM. Petter öffnet die Kellertür und versteckt sich hinter den Fahrrädern. Er bleibt mäuschenstill dort sitzen.
    Petter hockt noch immer hinter den Fahrrädern. Viel Zeit ist vergangen.
    Mutter kommt in den Keller und findet ihn hinter den Fahrrädern. Beide weinen bitterlich.
     
    Mehr weiß der Junge nicht mehr, und ich kann ihn nicht unter Druck setzen. Ich kann mich nicht darauf verlassen, daß die Erinnerungen des Jungen wahr sind.
    Meter hat seinen Spazierstock auf den Boden fallen lassen, vielleicht hat er seinen Wanderstab auch für immer weggelegt, denn er hebt ihn nicht wieder auf. Er steht nur da und schaut mit wehmütigem, fast schwermütigem Blick zu mir hoch. Dann sagt er: Damit ist das Thema für diesmal erledigt!
    Gleich darauf ist er verschwunden, und ich weiß, daß ich ihn nie wiedersehen werde.
    Der Boden, den ich jetzt betrachte, ist mit Keramikfliesen ausgelegt, immer abwechselnd mit einer roten und einer olivgrünen. Ich fange an, sie zu zählen.
    Ich habe mir mitten im Zimmer ein Quadrat aus vier Fliesen ausgesucht, sie leuchten und machen sich breit und verdrängen den restlichen Boden gewissermaßen, aber auf die Dauer finde ich ihren Anblick zu eintönig. Ich suche mir neun Fliesen aus, drei mal drei ist neun. Auch die sind zu ärmlich, wie sollten neun Keramikfliesen mir etwas zu sagen haben? Ich suche mir ein Quadrat aus sechzehn Fliesen, jede Fliese steht jetzt in einem höheren Zusammenhang, sie wissen das nicht, ich weiß es. Es ist aber auch nicht wichtig, denn ich habe mir schon ein Quadrat aus fünfundzwanzig Fliesen ausgesucht. Ich schreibe in Gedanken B, E, A, T und E in die obersten fünf Fliesen und versuche, aus den fünf Buchstaben ein magisches Quadrat zu bilden. Ich versuche es auch mit M, A, R, I und A, aber beides ist so kompliziert, daß ich beschließe, die Sache zu verschieben, bis ich mehr Zeit dafür habe.
    Der Boden ist so groß, daß ich problemlos ein Quadrat aus sechsunddreißig Fliesen bilden kann, ich muß nur zwei Schuhe aus dem Weg schieben. Die sechsunddreißig Fliesen gehören dem Hotel, der höhere Zusammenhang jedoch mir. Es steht nicht fest, ob schon anderen Gästen dieses harmonische Quadrat aufgefallen ist, aber ich habe es in einen höheren Zusammenhang erhoben, ins Reich von Geist und Aufmerksamkeit. Der höhere Zusammenhang liegt nicht auf dem Boden, sondern ist sicher in meinem Kopf verwahrt. Die sechsunddreißig Fliesen auf dem Boden dürfen sich einen eingebildeten Rahmen aus meiner Seele ausleihen, ich finde es großzügig von mir, daß ich sie so gut im Auge behalte. Ich lasse meinen Blick über die sechsunddreißig Fliesen wandern, waagerecht, senkrecht und diagonal. Die Fliesen spüren nicht, daß meine Blicke über sie hinweggleiten. Ich konzentriere mich jetzt auf Fliese Nr. 13, es ist die erste Fliese in der dritten Reihe. Sie hat unten in der rechten Ecke eine kleine Kerbe, doch darüber braucht sie nicht traurig zu sein, es gibt im ganzen Zimmer so gut wie keine unversehrte Fliese. Die Fliesen liegen auf dem Rücken und strecken die Nase in die Luft, weshalb sie einander nicht sehen können. Sie bedecken gemeinsam einen ganzen Boden, brauchen sich aber umeinander nicht zu kümmern; hier und jetzt kümmern sie sich nur um mich, und ich sehe sie alle nacheinander an. Wenn ich Fliese Nr. 13 diagonal in zwei gleiche Teile teile, erhalte ich drei rechtwinklige Dreiecke, sie sind natürlich gleichschenklig, aber ich hebe keinen Finger, ich bin keiner, der Einrichtungen zerschlägt. Obwohl ich diese Fliese länger anstarre, vielleicht zermalme ich sie doch noch mit meinem Blick. Wieder konzentriere ich mich auf die ganze Fläche von sechs mal sechs. Mit sechs mal sechs Keramikfliesen kann man viel anfangen, sehr viel, man könnte zum Beispiel für jede einzelne Fliese eine Geschichte schreiben, denke ich, das ist leicht.
    Ich habe einen Stuhl verschoben und kann jetzt meine  ganze Aufmerksamkeit auf neunundvierzig Fliesen konzentrieren. Ich kann alle auf einmal sehen, ohne meinen Blick verlagern zu müssen, ich glaube, ich besitze eine besondere Begabung für die Beobachtung von Keramikfliesen. Mit dem letzten Quadrat bin ich besonders zufrieden, ich werde es nie vergessen, sieben mal sieben Fliesen sind die äußerste Wahrheit, nicht
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